Serbien

Desaster für politische Führung gerade noch abgewendet

Mit der knappen Zustimmung zur neuen Verfassung in Serbien ist die politische Führung des Landes am Wochenende haarscharf an einem Desaster vorbeigeschlittert. Eine Gruppe kleiner Oppositionsparteien wirft den Behörden massiven Wahlbetrug vor.

Alle großen serbischen Parteien, von den Ultranationalisten des mutmaßlichen Kriegsverbrechers Vojislav Seselj bis zu den Demokraten des prowestlichen Staatspräsidenten Boris Tadic, hatten energisch für eine Annahme der Verfassung geworben. Dennoch stimmten ihr nur gerade 52,3 Prozent der serbischen Wahlberechtigten zu. Das neue Grundgesetz schreibt das Kosovo als integralen Bestandteil Serbiens fest. Die Stimmbeteiligung lag nach Angaben der Wahlkommission in Belgrad bei 54,2 Prozent. Für die Annahme der Verfassung war die Zustimmung der absoluten Mehrheit der rund 6,6 Millionen Wahlberechtigten erforderlich.

Bis kurz vor Schließung der Wahllokale am Sonntag um 20 Uhr schien es, das Referendum könnte an einer zu geringen Wahlbeteiligung scheitern. Erst um 19 Uhr wurde die 50-Prozent-Marke überschritten. Fast alle Gegner der neuen Verfassung drückten ihre ablehnende Haltung dadurch aus, dass sie sich gar nicht am Referendum beteiligten. Staatspräsident Boris Tadic beglückwünschte das serbische Volk zur neuen Verfassung. „Die Bürger haben sich für ein europäisches Serbien entschieden“, sagte er gegenüber der Nachrichtenagentur Beta. Das Wichtigste sei, dass damit die Ära Milosevic endgültig der Vergangenheit angehöre. Das neue Grundgesetz löst jene Verfassung ab, die 1990 unter der faktischen Alleinherrschaft des damaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic eingeführt worden war.

Eine Gruppe kleiner Oppositionsparteien, die gemeinsam die neue Verfassung bekämpft hatten, warf den Behörden massiven Wahlbetrug vor. Der ehemalige serbische Vizepremier Cedomir Jovanovic, Vorsitzender der Liberaldemokratischen Partei (LDP), sagte, es hätten lediglich 49,7 Prozent der Wahlberechtigten an der Abstimmung teilgenommen, das Referendum sei somit gescheitert. Die Verfassungsgegner beklagten laut dem Belgrader Sender B92, dass am Sonntagnachmittag nach 15 Uhr die Wahlbeteiligung plötzlich „wie durch ein Wunder“ in die Höhe geschnellt sei. Laut Angaben der Wahlkommission gingen in der letzten Stunde vor Schließung der Wahllokale rund 4 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen. Die Verfassungsgegner bezeichneten es als Manipulation, dass während der beiden Referendumstage im serbischen Fernsehen permanent zur Teilnahme aufgerufen wurde. Zudem seien viele Wahlberechtigte am Sonntagnachmittag per Telefonanruf oder durch Hausbesuche gedrängt worden, doch noch zur Abstimmung zu gehen.

Die höchste Wahlbeteiligung war in der seit 1999 von den Vereinten Nationen verwalteten, aber völkerrechtlich noch immer zu Serbien gehörenden Provinz Kosovo zu verzeichnen. 90,1 Prozent der gut 100'000 Wahlberechtigten – fast ausschließlich ethnische Serben – gaben am Wochenende ihre Stimme ab. Die Kosovo-Albaner, die rund 90 Prozent der 1,9 Millionen Einwohner des Kosovo ausmachen, boykottieren schon seit Jahren die serbischen Institutionen. So sind sie auch nicht in den Wahlregistern eingetragen und konnten deshalb nicht am Referendum teilnehmen. Die nach vollständiger Unabhängigkeit von Serbien strebenden politischen Führer der Kosovo-Albaner hatten schon vor dem Referendum erklärt, die Abstimmung sei für das Kosovo und seine Zukunft unbedeutend.

In dem fast nur von Serben bewohnten Norden der geteilten kosovarischen Stadt Mitrovica versammelten sich am Sonntagabend Hunderte von Menschen und feierten die Annahme des Referendums. In Sprechchören skandierten sie „Hier ist Serbien“ oder „Wir geben das Land nicht her“. Den serbischen Ministerpräsidenten Vojislav Kostunica, der im Abstimmungskampf immer wieder die "ewige Zugehörigkeit" des Kosovo zu Serbien beschworen hatte, ließen die Menschen genauso hochleben wie den flüchtigen mutmaßlichen Kriegsverbrecher Ratko Mladic. Beinahe wäre es den großen serbischen Parteien nun zum Verhängnis geworden, dass sie die neue Verfassung ohne jegliche Diskussion in der Bevölkerung entworfen und vor vier Wochen in einer Nacht- und Nebel-Aktion durchs Parlament gebracht hatten. Fast die Hälfte der Wahlberechtigten blieb der Referendumsabstimmung fern. Bei den wohl noch in diesem Jahr stattfindenden vorgezogenen serbischen Parlamentswahlen könnten sie jenen kleinen Parteien, die sich energisch gegen die neue Verfassung gestellt hatten, zu mehr Einfluss in der serbischen Politik verhelfen.


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