Serbien

Tadic warnt vor Massenflucht

Vor der Abstimmung über die neue serbische Verfassung zeigt sich Serbiens Präsident Boris Tadic zwar fest entschlossen, bis zum Schluss um das Kosovo zu kämpfen. Aber scheinbar setzt sich auch auf höchster staatlicher Ebene die Erkenntnis durch, dass ein Verlust des Kosovo nicht mehr zu verhindern ist.

Der serbische Präsident Boris Tadic ist in diesen Tagen nicht zu beneiden. Auf der einen Seite muss er in der Öffentlichkeit als "guter Serbe" auftreten und sich immer wieder klar zum Kosovo und dessen Zugehörigkeit zu Serbien bekennen. Ein Abrücken von dieser Linie käme einem politischen Selbstmord gleich. So steht auch Tadics Unterstützung für die neue Verfassung, über die an diesem Wochenende in Serbien abgestimmt wird (vgl. Kasten), außer Frage. Darin wird das Kosovo schon in der Präambel als integraler Bestandteil der Republik Serbien festgeschrieben. Auf der anderen Seite aber muss der Präsident sein Volk auf jene Realität vorbereiten, die in Belgrad langsam aber sicher als unabwendbar erkannt wird: dass der UN-Sicherheitsrat dem Kosovo eine wie auch immer formulierte Unabhängigkeit zuerkennen wird – und damit das Kosovo für Serbien verloren ist.


Der serbische Staatspräsident Boris Tadic / Norbert Rütsche, n-ost

Im Gespräch mit dieser Zeitung zeigte sich der serbische Präsident fest entschlossen, bis zuletzt um das Kosovo zu kämpfen. Er unterstrich immer wieder den "legitimen Anspruch" seines Landes auf das Kosovo. Die Region sei nicht nur ein Teil der serbischen Geschichte, sondern auch "ein Teil unserer Identität". Aber Serbien wolle keinesfalls das Schicksal der Kosovo-Albaner bestimmen, sondern lediglich die staatliche Integrität des Landes schützen und den Einfluss auf die Serben im Kosovo wahren. Das moralische Recht Serbiens auf die Region steht für Tadic, auch mit Blick auf die Herrschaft von Milosevic, nicht zur Debatte: "Das Kosovo ist ein Teufelskreis von Verbrechen, nicht erst seit der Milosevic-Zeit, sondern auch schon davor. Es ist zu einfach zu sagen, nur die Serben seien schuld im Kosovo."

Auf dem Balkan habe es geradezu einen "Wettkampf von Verbrechen" gegeben. Tadic wehrte sich entschieden gegen die Verurteilung ganzer Völker: "Ich sage nie: Die Albaner sind schuld. Und ich sage auch nicht: Die Serben sind schuld. Schuld sind einzelne Personen, die einen Vornamen und einen Namen haben." Auch wenn es Präsident Tadic nicht offen aussprechen kann, so scheint sich bei ihm die Einsicht durchzusetzen, dass Serbien die Unabhängigkeit des Kosovo nicht mehr wird verhindern können. "Ich ergebe mich nicht, bis zum letzten Atemzug. Aber ich stelle auch die Realität fest", sagte er im Gespräch. Er verglich seine Rolle im serbischen Ringen um das Kosovo mit derjenigen eines Arztes an der Seite eines Patienten, der sich in Todesgefahr befindet: "Sie sprechen mit einem Mann, der verantwortlich gemacht werden kann für den Verlust eines Teils des serbischen Territoriums und der Identität seines Volkes." Das sei keine angenehme Rolle, so Tadic.



Infokasten

Zustimmung zur neuen Verfassung erwartet

Die Wahlberechtigten in Serbien sind an diesem Wochenende aufgerufen, in einem Referendum über eine neue Verfassung abzustimmen. Sie soll jenes Grundgesetz ablösen, das 1990 vom damaligen Präsidenten Slobodan Milosevic eingeführt worden war. Die serbische Politik steht fast geschlossen hinter der neuen Verfassung. Die wichtigste politische Botschaft des Textes steht in der Präambel, in der das Kosovo als integraler Bestandteil Serbiens festgeschrieben wird. Damit ist das Referendum faktisch ein Plebiszit über die Zugehörigkeit des Kosovo zu Serbien. Damit die neue Verfassung in Kraft treten kann, muss sie von mindestens der Hälfte der 6,6 Millionen registrierten Wahlberechtigten – darunter auch viele im Ausland lebende Serben – angenommen werden. Aufgrund jüngster Meinungsumfragen erwartet das Belgrader "Zentrum für freie Wahlen und Demokratie", dass sich rund vier Millionen Wahlberechtigte am Referendum beteiligen werden.

Von ihnen wollen über 90 Prozent der neuen Verfassung zustimmen, was für eine Annahme ausreicht. Die Albaner aus dem Kosovo werden dem Referendum allerdings fernbleiben. Schon seit Jahren boykottieren sie die serbischen Institutionen und sind entsprechend auch nicht in den Wahlregistern eingetragen. Der serbische Präsident Boris Tadic räumte im Gespräch mit dieser Zeitung ein, dass dieser Umstand "ein Problem der vollen Legitimität der Verfassung" bedeute. In Serbien (ohne das Kosovo) leben rund 7,5 Millionen Menschen. Die Bevölkerungszahl in dem seit 1999 von der Uno verwalteten Kosovo wird auf 1,9 Millionen geschätzt. Davon sind rund 90 Prozent ethnische Albaner und 6 Prozent Serben.


Der serbische Staatspräsident rechnet damit, dass eine Unabhängigkeit des Kosovo zu einer Massenflucht unter den noch gut 100.000 im Kosovo verbliebenen Serben führt. Die internationale Gemeinschaft trage dabei eine "enorme Verantwortung". Gerade seit den Unruhen im März 2004 sei das Misstrauen zwischen Albanern und Serben im Kosovo immens. "Ein Funke genügt für einen neuen Exodus. Die früheren ethnischen Säuberungen gegen die Albaner können keine ethnischen Säuberungen gegen die Serben rechtfertigen." Er fände die Vorstellung schrecklich, die Geschichte beizuziehen um herauszufinden, wer angefangen habe. "Meine Politik ist darauf bedacht, dass die Leute in ihren Häusern bleiben sollen – Serben wie Albaner." Dies gelte im Übrigen auch für die Albaner in Serbien. Er werde es niemals zulassen, dass als Reaktion auf eine Unabhängigkeit des Kosovo die Albaner aus Serbien vertrieben würden.

Nach Einschätzung von Boris Tadic hätte eine Unabhängigkeit des Kosovo nicht nur für die Serben katastrophale Folgen, sondern für die ganze Balkanregion. Denn jene Gebiete in Mazedonien, Montenegro und Serbien, wo die ethnischen Albaner die Mehrheit bilden, seien "Filialen der kosovarischen Politik", wirtschaftlich und finanziell eng vernetzt. "Die Unabhängigkeit des Kosovo ruft sofort eine Destabilisierung dieser Gebiete hervor." Sollte diese "für Serbien brutale Entscheidung" getroffen werden, dann sei in den nächsten zehn Jahren mit noch viel größeren Problemen zu rechnen. Auf die Frage, ob sich Serbien bei den vom UN-Chefvermittler Martti Ahtisaari geleiteten Verhandlungen als gleichberechtigter Partner fühle, meinte Tadic: "Ich glaube nicht so stark an die Gerechtigkeit und die Gleichberechtigung in der Politik, wenngleich ich dafür kämpfe. Aber wir leiden noch heute an den Folgen der Milosevic-Zeit."

Das Bild Serbiens in der Welt sei nicht das beste. Hätte es in den 1990er Jahren in Serbien eine bessere Politik gegeben, wäre das Kosovo-Problem bereits gelöst. Tadic macht keinen Hehl draus, dass er sich manchmal schwer tut als Präsident Serbiens: "Ich denke, ich habe das unangenehmste Präsidentenamt im heutigen Europa." Trotzdem will er sich nach dem Verfassungsreferendum so schnell wie möglich der vorgezogenen Wiederwahl stellen. Denn er wolle ein europäisches Serbien, das seine Probleme anpackt und nicht vor ihnen flieht wie beim Trauerspiel um den mutmaßlichen Kriegsverbrecher Ratko Mladic: "Ich schäme mich dafür und ich bin es leid darüber reden zu müssen, warum wir dieses Problem noch nicht gelöst haben."


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