Internet-Boom in Putins Reich
Online-Zeitungen gewinnen für die Meinungsfreiheit in Russland stark an Bedeutung.Moskau (n-ost) - Die Zahl der Internet-Nutzer in Russland nimmt rasant zu: Lag sie im September 2002 noch bei 8,8 Millionen, so gehen nach aktuellem Stand derzeit 24,3 Millionen Russen regelmäßig online - rund 17 Prozent der russischen Gesamtbevölkerung. Fast ein Drittel der Russen hat heute einen Computer zu Hause, während zwei Prozent sogar zwei oder mehr PCs besitzenBei jedem fünften Russen beginnt der Tag mit der Lektüre der Netz-Zeitungen. Auf der Rating-Liste der meistbesuchten Web-Ressourcen im Runet stehen die Online-Medien nach den Suchmaschinen www.rambler.ru und www.yandex.ru auf Platz 2.
Im Netz tobt bereits ein Konkurrenzkampf zwischen den Online-Versionen der Printausgaben und den „reinen“ Online-Medien, die nur im Internet erscheinen. Das tägliche Internet-Auditorium russischer Printausgaben wie „Sport-Express“, „Izwestia“ und „Komsomolskaja Prawda“ liegt bei über 30.000 Lesern pro Tag, was 1,5 bis 6 Prozent der Papier-Leserschaft ausmacht. Dabei besuchen die Web-Seite der Online-Zeitung Dni.ru täglich 65 000 Internauten. Die analytische Medien-Web-Seite www.smi.ru zählte 2006 insgesamt 154 Online-Zeitungen in Russland, die eine wachsende Bedeutung für die Meinungsfreiheit in Putins Reich übernehmen und damit die staatlich stark kontrollierten Fernsehsender ablösen. Der Kreativität sind auch im russisch-sprachigen Teil des Netzes keine Grenzen gesetzt. So hat beispielsweise das russische Theater das Internet für sich entdeckt. Beinahe jedes Theater in Russland hat inzwischen seine eigene Homepage. Im Herbst 2004 startete eine neue Dimension der theatralischen Präsenz im Internet: Das Online-Festival „Theatralisches Spinnennetz“, bei dem mehrere Vorführungen live im Internet übertragen wurden. Zuschauer in 52 Ländern verfolgten das kulturelle Online-Ereignis. Vom Erfolg des Festivals motiviert, startete der Organisator dieser Veranstaltung, das kulturelle Web-Portal www.cultu.ru, im März 2005 das 1. theatralische Internet-Festival in Russland. Das 2. Internet-Festival läuft derzeit noch bis 24. Oktober. Sieben Kunstgenres sind im Netz zu verfolgen - ein Drama, eine Oper, ein Ballett, ein Musical, eine Avantgarde-Vorführung, ein Kinderspektakel und ein so genanntes „Gewirr-Theater“.Der Kreml beobachtet das Treiben im Netz mit einem zwiespältigen Gefühl.
Einerseits sieht Putin ein, dass der Staat die Entwicklung des Internets
unterstützen soll. Andererseits machen die Schwierigkeiten, das Internet zu
kontrollieren, dem Kreml zu schaffen.Seit Februar 2001 arbeitet die russische Regierung intensiv am föderalen
Programm "e-Russland 2002 - 2010" (www.e-rus.ru). Das mit 3,5 Mrd. Rubel
dotierte Projekt sieht eine stärkere Nutzung der neuen
Informationstechnologien, eine aktive Verbreitung der interaktiven
Bildungsprogramme sowie stärkeren Informationstransfer mit dem Ziel einer
erfolgreichen Integration Russlands in die westliche Informationsgesellschaft vor.Putin selbst scheint die Vorzüge des Internets zu schätzen. Die offizielle
Homepage des Präsidenten www.president.kremlin.ru wurde vor einem Jahr mit
sechs Millionen Rubel aus der Staatskasse erneuert und registriert bis zu 30 000
Besucher pro Tag. Außerdem entstand vor kurzem die neue Site „Entdeckung des
Kreml“ www.openkremlin.ru. Sie ermöglicht jedem Besucher eine
individuelle virtuelle Führung durch den Moskauer Kreml und zeigt sowohl die
weit bekannten Sehenswürdigkeiten als auch solche Objekte, die zum Komplex
der Kreml-Residenz des Präsidenten gehören und normalerweise für
Massenbesuche geschlossen sind.Mit Unbehangen betrachtet jedoch der Kreml das Protestpotential des
russischen Internets: Da gibt es beispielsweise die vom Exil-Oligarchen Boris Beresowski finanzierte Web-Seite Grani.ru, die sich mit Vorliebe mit den heiklen Themen der russischen Innenpolitik beschäftigt. In der Jukos-Affäre vertrat Grani.ru einen klaren Pro-Chodorkowski-Kurs.
Empört über einen neuen Vorfall der brutalen Kameradenschinderei in der russischen Armee, startete die russische Internet-Gesellschaft Ende Januar eine Unterschriftensammlung für den Rücktritt des russischen Verteidigungsministers, Sergej Ivanov. Die Aktion wurde von den Web-Seiten der russischen Menschenrechtler http://alert.hro.org/ lanciert und von der Internetausgabe der
regierungskritischen Zeitung www.novayagazeta.ru unterstützt. Online wurden
9615 Unterschriften gesammelt, die am 20. März 2006 der Präsidialen
Administration im Kreml überreicht wurden. Wenn die Erfolge dieser Aktion
zahlenmäßig noch gering sind, kann die politische Netzaktivität noch
wachsen. Bis zum Jahr 2010 rechnet das russische Ministerium für Informationstechnologien bereits mit 50 Millionen Internet-Nutzern.Nicht unerwartet kommen daher die Versuche der Regierung, das Internet in
Russland zu kontrollieren. Während die Amerikaner mit ECHELON bereits die
gesamte satellitengestützte Kommunikation belauschen, gibt es in Russland
das Abhörprojekt SORM (russ. für System der operationellen Suchmaßnahmen),
das schon vor einiger Zeit von Bürgerrechtlern und Internet-Providern
angeprangert wurde.Durch SORM 1 hatte der russische Geheimdienst FSB bereits das Recht
erhalten, nach Vorlage einer richterlichen Befugnis bei den Providern die
Internetaktivitäten der Kunden zu überwachen. SORM 2 sieht vor, dass der
Geheimdienst jederzeit auch ohne Genehmigung abhören kann und dass die
Provider die „Hotlines“ zu den Computern des Geheimdienstes einrichten
müssen, so dass die Informationen automatisch aus der Ferne abgerufen werden
können. Jedoch sind sich viele Experten einig: eine totale Kontrolle über
das Internet ist nicht möglich.Ende--------------------------------------------------------------
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