Treppe in den Tod
Am 20. Oktober jährt sich das Stadiondrama von MoskauVon n-ost-Korrespondent Tino Künzel Moskau (n-ost) – Auf dem letzten Foto, das Swetlana Klimenko von ihrem Sohn Alexander geblieben ist, hat er einen gestreiften Schal um die Schultern. Die Farben behält das Schwarz-Weiß-Bild für sich, aber die Rentnerin klärt lächelnd auf: „Rot und weiß. Ein Schal von Spartak Moskau. Dabei hat sich mein Sohn für Fußball gar nicht besonders interessiert. Im Stadion ist er nie gewesen.“ Sie senkt den Blick. „Bis auf dieses eine Mal.“17 war Alexander damals. Kumpels aus dem Technikum hatten Karten besorgt für Spartak, den populärsten Fußballverein in Russland, derzeit Gruppengegner von Bayern München in der Champions League. An jenem 20. Oktober 1982 spielte die Mannschaft im europäischen Uefa-Cup-Wettbewerb gegen den holländischen FC Haarlem. Ein Abend mitten in der Woche. Zu fünft gingen sie hin. Zwei Stunden später waren drei von ihnen tot, darunter Alexander. Einer seiner überlebenden Freunde rief bei ihm zu Hause an. Swetlana Klimenko erinnert sich: „Er hat nur gestottert. Es sei etwas passiert. Wir haben in unserer Verzweiflung alle möglichen Milizstellen abtelefoniert. Aber dort wussten sie nichts. Am nächsten Tag haben wir unseren Sohn im Leichenschauhaus gefunden.“
Eine Eintrittskarte vom Unglückstag im Luschniki-Stadion. Foto: Tino KünzelNach Schätzungen bezahlten seinerzeit über 300 Zuschauer die Schlamperei der Ordnungshüter im riesigen Lenin-Stadion, das heute Luschniki heißt, mit dem Leben. Die meisten wurden kurz vor Ende des Spiels, auf dem Weg vom Innenraum ins Freie, Opfer eines Gedränges, andere stürzten mehrere Meter tief auf den Beton, als ein Geländer barst. Die Leichen legte man am Fuße des Lenin-Denkmals ab. Erst nach 40 Minuten, so Augenzeugen, durften Notambulanzen zum Ort des Schreckens. Währenddessen riegelte Miliz das Stadiongelände ab. Noch in der Nacht wurde eine Informationssperre verhängt. Die Öffentlichkeit erfuhr von der Katastrophe auf sowjetische Art nichts, abgesehen von einem Vierzeiler in der „Moskauer Abendzeitung“ am 21. Oktober 1982. Darin war von einem „Unglücksfall“ die Rede, unter den Besuchern gebe es „Leidtragende“. Erst 1989 wurden Einzelheiten publik. Doch auch heute noch ist das Drama den wenigsten geläufig.Begonnen hatte alles mit einem Kälteeinbruch. Der Spieltag brachte den ersten Schnee. Bei eisigem Wind fielen die Temperaturen bis zum Abend auf minus zehn Grad. Weil im Vorverkauf nur 10 000 Karten abgesetzt worden waren, entschieden die Diensthabenden im 80 000 Zuschauer fassenden Lenin-Stadion, dass für die Besucher auch eine einzige Tribüne ausreichend sei. So konnte man sich die Arbeit erleichtern und behielt vor allem die Jugendlichen besser unter Kontrolle. Die Fanszene war den Funktionären als Subkultur schon lange ein Dorn im Auge, einen Schal oder selbst ein Abzeichen des Lieblingsvereins zu tragen, galt als verdächtig. Und so wurde der Block mit den jüngeren Zuschauern auch besonders bewacht und durch einen doppelten Polizeiring isoliert. Zum Ausgang führte vom zweiten Stock aus nur eine schmale Treppe.Bis kurz vor Schluss stand es 1:0. Als die Ersten sich anschickten, nach Hause zu gehen, halfen die frierenden Ordnungskräfte nur zu gern nach und gaben auch dem Rest zu verstehen, dass das Spiel für sie zu Ende sei. Kurz danach fiel das 2:0. Schütze Sergej Schwezow hat es später zutiefst bereut. Denn auf den Jubel hin drängten die Abgewanderten zurück. Von oben wurden jedoch unaufhaltsam die Nächsten hinuntergestoßen: „Ab nach Hause, Ihr könnt Euch auch auf der Straße freuen!“ Die in der Mitte hatten keine Chance.
In der offiziellen Lesart wurden die Opfer zu Tätern: „Hooligans“ seien an dem Unglück schuld, hieß es – und ihre Eltern als Erziehungsberechtigte gleich mit. Erst nach 13 Tagen wurden die toten Unruhestifter, die allen so viel Kummer bereitet hatten, zur Beerdigung freigegeben. Auf dem Weg zum Friedhof durften die Angehörigen für genau 40 Minuten zu Hause Abschied von ihren Kindern, Enkeln, Brüdern nehmen, in Anwesenheit von Polizisten. Dann wurden die Särge wieder aufgeladen. Beim Begräbnis wimmelte es von Miliz. Wer rot-weiße Spartak-Devotionalien trug, wurde nicht vorgelassen.Am 8. Februar 1983 kam es zu einer Gerichtsverhandlung. Die Angehörigen sollten dabei überhaupt nicht anwesend sein, dann gelangten sie doch in den Saal, allerdings ohne Rechtsbeistand. Kein Anwalt hatte sich bereit gefunden, ihre Interessen zu vertreten. Die Staatsanwaltschaft sprach von 66 Toten. Vertretern der Friedhöfe war aber bereits am Tag nach der Tragödie mitgeteilt worden, mit Stand von 12 Uhr mittags betrage die Opferzahl 102. Und da lagen viele lebensgefährlich Verletzte noch in den Krankenhäusern. Der Richter verurteilte den Einsatzleiter des Spiels zu anderthalb Jahren Besserungsarbeit. Dann wurde die Akte geschlossen.Immer am Jahrestag der Katastrophe versammeln sich Hinterbliebene im Luschniki-Komplex. Seit 1992 befindet sich dort ein bescheidenes Denkmal, das der Fanklub von Spartak gestiftet hat. Es ist „allen Stadionopfern der Welt“ gewidmet. Auch nach dem Ende der Sowjetunion durfte dieses dunkle Kapitel eigener Alltagsgeschichte scheinbar nicht für sich stehen, sondern musste relativiert werden durch den Verweis darauf, dass menschliches Versagen anderswo ähnlich folgenschwere Auswirkungen hatte. Dass es sich um keinen Einzelfall handelte. Siehe Bradford (56 Tote) und Brüssel (39) 1985. Siehe Sheffield (96) 1989. In englischen Stadien tauchte damals die Fußballhymne „You’ll never walk alone“ auf, als Versprechen an die Familien der Toten, sie nicht allein zu lassen in ihrem Schmerz. Die Angehörigen der Moskauer Opfer wurden von niemandem getröstet. „Uns Eltern hat man einfach vergessen“, sagt Swetlana Klimenko. Es klingt nicht einmal wütend, sondern nur so, als ob die 67-Jährige einfach keine Kraft mehr habe, ihre Stimme zu heben. Solidarität gab es nur untereinander. Und so treffen sie sich denn einmal im Jahr, zünden Kerzen an, breiten auf dem Sockel des Denkmals ein Tischtuch aus, das mit belegten Broten, Eierkuchen und Wodka gedeckt wird. Jeder serviert etwas, jeder soll zugreifen. „Hier sind wir alle gleich“, sagt Raissa Wiktorowa, die so ein bisschen die Fäden zusammenhält. Sie hat in Luschniki ihren einzigen Sohn Oleg verloren.Im Vorjahr schaute, erstmals nach 23 Jahren, auch die Mannschaft von Spartak mit Trainer und Generaldirektor kurz vorbei. Eine Geste, immerhin. „Vom Staat haben wir nie irgendwelche Unterstützung erhalten, keine Kopeke“, berichtet Raissa Wiktorowa. „Am ersten Jahrestag des Unglücks hat man uns sogar den Zutritt zu jener unseligen Treppe verwehrt, wo wir Blumen niederlegen wollten.“ Viele Jahre spielte Spartak zu Hause nie am 20. Oktober. Maßgebliche Leute befürchteten, es könne Nelken regnen.Ende