Kommunismus für Touristen
Unterwegs in Nowa Huta – Stalins Geschenk an PolenNowa Huta/Krakau (n-ost) - Lärm und Gestank sind unverwechselbar: Zwei Trabis und ein alter Polski Fiat 125 fahren vor der Universität im Zentrum von Krakau vor. Solche Autos sind auch in Polen mittlerweile zwischen allen westlichen Gefährten rar geworden und sorgen für Aufmerksamkeit und breites Grinsen. „Hallo, ich bin Michal Ostrowski, aber nennt mich einfach Crazy Mike“, begrüßt der Fahrer des Polski Fiat auf Englisch eine wartende Gruppe, „ich bin Euer Guide heute, welcome in Krakau!“Deutsche Studenten aus Mainz, die in Krakau einen Sommersprachkurs absolvieren, sind Gäste seiner „Crazy Kommunismus Tour“ am heutigen Nachmittag. „Dies ist Kuba, auch ein verrückter Typ“, stellt er den anderen Trabi-Fahrer vor, „steigt ein, ich zeige Euch in Nowa Huta den Kommunismus so wie er war – come on boys, lets go!“ Mit quietschen Reifen fahren die Ost-Oldtimer in den nur wenige Kilometer vom Zentrum entfernten Stadtteil Nowa Huta, auf deutsch Neue Hütte, die einstige Vorzeigestadt der Kommunisten in Polen. Im Polski Fiat oder im Trabi nimmt Jungunternehmer Michal Ostrowski Touristen auf Kommunismus-Tour durch die sozialistische Arbeiterstadt Nowa Huta bei Krakau. Foto: Hartmut Ziesing Auf dem Weg erzählt Kuba, mit vollem Namen Jakub Bialach, 22 Jahre alt und Soziologie-Student, von der sozialistischen Stadt: „Wir fahren jetzt die Friedensallee entlang, früher hieß die Allee der Polnisch-Sowjetischen Freundschaft“. Immer wieder zwingt ein Stau den Trabi zum Anhalten. „Wollen die alle nach Nowa Huta“, fragt einer der Studenten? „Eher nicht“, klärt Kuba auf, „wer in Krakau wohnt fährt nicht dahin und umgekehrt, die Bewohner mögen sich gegenseitig nicht so sehr.“ Auf dem Weg in die sozialistische Retortenstadt haben sich in den letzten Jahren große Einkaufszentren, in Polen „Hypermarket“ genannt, Baumärkte, Multiplexkinos und ein Badeland angesiedelt, dorthin sind die meisten unterwegs. Um den Kommunismus zu erleben, müssen die deutschen Studenten zunächst den real existierenden Kapitalismus hinter sich lassen. Kuba selber stammt nicht aus Nowa Huta, sondern wurde in Kattowitz geboren, das von 1953 bis 1956 auch einmal Stalinogrod hieß. Aber dort könne man den Kommunismus heute nicht mehr erleben, so etwas wie Nowa Huta sei in Polen einzigartig, erklärt Kuba, „und deswegen kommen Massen von Touristen jetzt nach Nowa Huta, denn Krakau beginnt die Besucher zu langweilen.“ Mit Touristen meint Kuba ausländische – zwei Drittel der Gäste seiner Touren sind Briten, der Rest aus den USA und anderen westeuropäischen Ländern. Polnische Besucher haben sich praktisch noch nie für seine Nowa Huta Tour angemeldet.Erstes Ziel in der sozialistischen Musterstadt ist das Restaurant „Stylowa“. 1956 eröffnet, einmal in den frühen 80er Jahren etwas umgebaut - seither wird es seinem Namen gerecht, denn es hat einen unveränderten sozialistischen Stil: Gummibäume, dicke Gardinen und bordeauxrote Tischdecken machen den Charme aus. Polnische Schlagermusik aus den 70er und 80er Jahren wird gespielt. Am Wochenende findet hier „Dancing“ mit Live-Kapelle statt, wie ein Plakat verkündet. Und auch die Kellner scheinen aus einer anderen Zeit zu stammen, es sind ältere Herren mit beeindruckenden Tätowierungen auf ihren Armen und Frauen mit gewaltigen Dauerwellen. In gelangweilter Gelassenheit servieren sie allen Gästen polnische Hausmannskost. Für die Studenten gibt es Salzhering mit einer dicken Zwiebelschicht darauf. „Typical polish food“, erklärt Kuba den Studenten. Dazu, unvermeidlich, Wodka. „Typical polish Schnaps“. Bier gibt’s auch noch, Ausländer vertragen nicht so viel Wodka auf einmal, erklärt Kuba später.Nach dem Essen kommt der große Auftritt von „Crazy Mike“, dem Guide der Gruppe: Etwas Geschichte, viel Anekdoten aus der kommunistischen Zeit in Polen. 1949 hat alles begonnen erzählt er, „es war ein Orgasmus für die Architekten, weil sie in zehn Jahren aus dem Nichts ein Stadt bauen konnten.“ Im gigantischen Eisenhüttenkombinat haben 40.000 Arbeiter gearbeitet: „Das waren für das Regime 40.000 Probleme, denn die neuen Arbeiter wollten sich politisch gar nicht anpassen“, so Mike. Die sozialistische Musterstadt neben dem Kombinat war ein Geschenk von Stalin an die Polen. „Und heute verkaufen wir mit unseren Führungen den Stalinismus im Kapitalismus“, freut er sich, um sich dann gleich zu rechtfertigen: „Wir wollen den Kommunismus nicht verharmlosen, sondern den Kampf der Menschen in Nowa Huta für die Freiheit zeigen.“Mike zeigt den Studenten ein paar Fotos von den großen Solidarnosc-Demonstrationen Anfang der 1980er Jahre. „Und auch die Luftverschmutzung durch das Kombinat war übel, jeder hatte hier Asthma.“ Auf mehr Interesse stößt bei den heutigen Gästen aber, was er dann aus dem Alltag im Kommunismus erzählt „Als Kinder haben wir alle Dosen gesammelt, Bier, Cola, ganz egal, Hauptsache aus dem Westen, und das waren ja alle, denn die gab es hier nicht. Da konnte man richtig Eindruck machen, wenn man eine große Sammlung hatte... 1989 sind die alle dann ganz schnell im Müll gelandet, gab es ja dann auch hier zu kaufen.“ Staunend hören die Studenten, dass eine „Bravo“ vom Flohmarkt ein ganz großer Fang war. Und: „Ich hatte mal einen Bounty-Riegel bekommen, von dem habe ich das Papier wochenlang in einem Glas aufgehoben, ich kannte ja vorher den Geschmack von Kokosnuss gar nicht“, erzählt Mike. Es geht weiter auf den Plac Centralna. Er ist heute nach Ronald Reagan benannt, weil der frühere amerikanische Präsident für einige Polen eine Symbolfigur für politische Freiheit ist. Der Platz war einst auch als Aufmarschplatz und für Panzerparaden geplant. Sternförmig gehen breite Alleen ab, die prächtigste führt bis direkt vors Kombinat. Sie hieß früher nach Lenin, heute Solidarnosc-Allee. Was Mike von der Solidarnosc halte, will einer der Studenten wissen. „Die war sehr gut“, sagt Mike und betont das `war` besonders, „heute ist das eine Gewerkschaft, und ich mag keine Gewerkschaften.“ Kein Wunder, der 30-jährige Mike ist Jungunternehmer, seine Mitarbeiter nennt er ironisch „meine Sklaven“. Vor zwei Jahren hat er mit seinen „Crazy-Kommunismus-Touren“ begonnen, 1000 Dollar Startkapital hat ihm ein amerikanisches Paar gegeben, die Mikes Idee überzeugt hatte: „Die kannten Krakau schon und wollten was anderes sehen“, erzählt Mike, „da habe ich sie mit meinem alten Polski-Fiat nach Nowa Huta gebracht und sie waren begeistert.“ Abends beim Bier haben alle dann die Geschäftsidee ausgebrütet. Vom Startkapital wurden die beiden ersten Trabis gekauft, seither brummt das Geschäft mit den „Crazy Kommunismus Touren“ für Mike und seine drei Mitarbeiter. Letzte Station der Studenten ist die legendäre „Schulsiedlung“. Hier hat Mike eine typische Zweizimmer-Wohnung angemietet, in der die Zeit stehen geblieben ist: Möbel, Tapeten, Bilder, Fernseher, Schrankwand, Küche – alles Original aus den 1970er Jahren. Bilder mit Jesus und eine Mariendarstellung, auch Papst Johannes Paul II. fehlt nicht. „Die Menschen in Nowa Huta waren nie politisch“, erklärt Mike, „aber zutiefst religiös.“ Weil das kommunistische Regime aber eine religionsfreie Stadt wollte, kam es zum massenhaften passiven Widerstand. 1977 wurde die erste Kirche von Nowa Huta fertig gestellt, die „Arka Pana“ – Arche des Herrn. Heute ist sie das wichtigste Symbol der sozialistischen Stadt für den einstigen Widerstand der Arbeiter gegen das Regime.In der Wohnung, die heute nur noch Mikes privates Museum ist, gibt es wieder Wodka mit Wurst und sauren Gurken. Zum Schluss kaufen einige Studenten dann noch Leninbüsten und Fellmützen als Souvenir. Die kommunistische Wohnung ist für die Studenten der Höhepunkt der heutigen Tour. Wer sie sehen will, muss allerdings die Variante „Kommunismus de luxe“ für 159 Zloty (rund 40 Euro) buchen.Nach vier Stunden geht es mit den Oldtimern zurück in die alte Königsstadt Krakau mit der Universität und ihrem intellektuellen Bürgertum. Das sozialistische Nowa Huta war von den Kommunisten als proletarischer Gegenentwurf zu dieser „bourgeoisen“ Stadt gedacht. Doch ganz offensichtlich ist diese Idee nicht aufgegangen: Als die Studenten wieder am Rynek, dem Hauptplatz von Krakau ankommen, pulsiert hier das Leben. Kein Vergleich mit dem Ronald-Reagan-Platz in Nowa Huta, wo nur ein paar vereinzelte Rentner und Hausfrauen spazieren gehen. „Bald wird Nowa Huta auch auf die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen, dann kommen noch mehr Touristen“, hofft Michal Ostrowski, „in zehn Jahren wird es dort so hipp sein, wie heute im Krakauer jüdischen Viertel Kazimierz“. Für den Fall, dass sich diese Prognose nicht bewahrheitet, hat Ostrowski vorgesorgt: Er hat auch ganz normale Krakau-Besichtigungen im Programm. Und privat sind sie auch nicht ganz von Nowa Huta überzeugt: Weder Ostrowski noch seine Mitarbeiter wohnen in Nowa Huta, sie alle bevorzugen Krakau.*** Ende ***Infokasten:
Informationen und Buchungen über die englischsprachigen Führungen unter: www.crazyguides.com
Die Führungen kosten ab 119 bis 159 Zloty pro Person (30-40 Euro pro Person), für Gruppen gibt es Rabatt, dann findet die Fahrt in einem Oldtimerbus statt.
Ausführliche historische Informationen über Nowa Huta in deutscher Sprache finden sich u.a. auf der privaten Homepage: www.nowa-huta.de
Informationen über Krakau einschließlich Hotels etc.: www.krakow.pl
Anreise: Mit dem Zug direkt aus Berlin. Flugverbindungen aus allen größeren deutschen Städten, u.a. mit Lufthansa, Lot, Germanwings und Easyjet.
Nowa Huta ist aus Krakau auch mit der Straßenbahn zu erreichen.------------------------------------------------
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