Russland

Dreieinhalb Jahre Sibirien

Russland hat den längsten Zivildienst der Welt – Einsatz fern der HeimatMoskau/St.Petersburg (n-ost) - Stanislaw Gasarja ist ein russischer Alternatiwschik. Das klingt, als gehöre der 21-Jährige mit den wachen Augen irgendeiner Sekte oder versprengten Umweltbewegung an – und tatsächlich ist Stas, wie ihn Freunde und Verwandte nennen, in seiner Heimat ein echter Exot. Er gehört zu jenen rund 500 jungen Männern, die zurzeit ihren Zivildienst in Russland ableisten - und im Volksmund Alternatiwschiki heißen.Erst seit Januar 2004 gibt es in Russland überhaupt die Möglichkeit, den Dienst an der Waffe aus Gewissensgründen zu verweigern. Zwar sind die Zustände in der russischen Armee katastrophal. Dass der in Russland kurz AGS genannte Zivildienst dennoch auf so wenig Resonanz bei jungen Russen stößt, verwundert kaum. Dreieinhalb Jahre dauert der AGS, deutlich länger also als der zweijährige Armeedienst. Damit ist die Russische Föderation weltweit einsame Spitze, was die Länge des Zivildienstes angeht. Abschreckend wirke zudem das so genannte exterritoriale Prinzip bei der Zuteilung der Zivildienststelle, sagt Reiner Wedde, der als Rechtanwalt in Moskau arbeitet und das russische Zivildienstgesetz ins Deutsche übersetzt hat. „In der Regel werden die Zivis aus dem europäischen Teil weit weg nach Sibirien oder in den Fernen Osten geschickt und umgekehrt.“Zeugen JehovasGanz so hart hat es Stanislaw Gasarja und seine beiden Zivi-Kollegen nicht getroffen: Die drei jungen Männer verrichten ihren Dienst in einem Altenheim am Stadtrand von St. Petersburg. Doch auch ihre Heimatstadt Maikop liegt immerhin 2000 Kilometer weit entfernt von der Ostsee im Süden Russlands. „Wir sind Zeugen Jehovas, und darum stellt sich uns nicht die Frage, Armee oder Zivildienst“, erzählt der 21-jährige Stas in einer Dienstpause bei Tee und Gebäck. Außerdem hätten er und seine Kameraden es mit der Arbeit als Pfleger einigermaßen gut getroffen.Tatsächlich landen nicht wenige der russischen Zivis als billige Arbeitskräfte beim Straßenbau, in Fabriken oder müssen als Gefängniswärter arbeiten. „Das Gesetz erlaubt sogar, dass der Zivildienst in einer militärischen Einrichtung verrichtet werden kann“, erklärt Jens Siegert vom Moskauer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung. Ein erneutes Licht auf die Zustände in der russischen Armee warf Anfang dieses Jahres der Fall des Rekruten Andrej Sytschow, dem nach der sadistischen Unterweisung durch Vorgesetzte in einer Kaserne am Ural beide Beine und die Genitalien amputiert werden mussten. „An welcher Stelle in der Kasernen-Hierarchie dann ein Wehrdienstverweigerer steht, kann sich wohl jeder vorstellen“, gibt Siegert zu bedenken.Zuständig für die Organisation des Zivildienstes ist die russische Agentur für Arbeit und Be-schäftigung Ros-Trud. Die Länge des Dienstes sei mit dreieinhalb Jahren optimal, heißt es dort lapidar. „Auch beim Heimat fernen Einsatz der Zivildienstleistenden hat sich der Gesetzgeber durchaus etwas gedacht“, sagt der stellvertretende Leiter der Abteilung Zivildienst, Boris Demjankow. So richte sich der Einsatzort der Alternatiwschiki nach dem Personalbedarf in den jeweiligen Krankenhäusern oder Pflegeheimen, die zudem über geeignete Unterbringungsmöglichkeiten für die Zivis verfügen müssten.MännlichkeitskultWas Demjankov verschweigt, sind die Umstände, unter denen viele der Zivildienstleistenden tatsächlich hausen. Stas und seine beiden Kollegen etwa wohnen auf einem Flur mit den anderen Heimbewohnern. Man hat ganz einfach eines der Zimmer für die drei geräumt. „Das widerspricht ganz klar dem Gesetz, ist aber leider kein Einzelfall“, wie man bei der Moskauer Koalition für einen Alternativen Zivildienst aus Erfahrung weiß. Sergej Kriwenko, Vorsitzender dieser nichtstaatlichen Anlaufstelle für Verweigerer und deren Angehörige, berichtet vom tragischen Fall eines Zivildienstleistenden, der in einer Psychiatrie in Uljanowsk ebenfalls in einem Patientenzimmer untergebracht war. „Da gab es einen nächtlichen Streit mit einem geistig Gestörten, der den Zivi erschlagen hat.“Der repressive Charakter des Gesetzes ist aber nur ein Grund für den geringen Anklang, den der Zivildienst bislang bei jungen Russen findet. Auch tradierte soziokulturelle Eigenheiten der russischen Gesellschaft spielen dabei eine wichtige Rolle. So herrscht ein ungebrochener Männlichkeitskult, der in Russland nur schwer vereinbar ist mit einem sozialen Ersatzdienst junger Männer in Krankenhäusern oder Altenheimen. „Zwar weiß in Russland jeder, dass der Armeedienst eine gefährliche Angelegenheit ist“, sagt Jens Siegert von der Heinrich-Böll-Stiftung. „Dennoch sagen bei Umfragen über 80 Prozent der Menschen, dass das Militär aus einem Mann erst einen Mann macht.“Grundlegende MilitärreformMenschenrechtsorganisationen drängen auf eine Änderung des Zivildienst-Gesetzes. „Andernfalls hat der Zivildienst in Russland keine Zukunft“, sagt Zinaida Tropina vom Peters-burger Büro der Russischen Soldatenmütter. Dabei haben auch einige russische Politiker längst erkannt, dass das Gesetz in seiner heutigen Form wenig Sinn macht. Dennoch bleibt Anwalt Reiner Wedde eher skeptisch, wenn er die Chancen auf eine rasche Novellierung bewerten soll. „Priorität hat für die Regierung unter Präsident Putin derzeit eine grundlegende Militärreform, an deren Ende eine Berufsarmee stehen soll.“ Damit wäre dann auch der Zivildienst überflüssig. Ein Lichtblick: 2008 berät die Staatsduma darüber, ob der Armee-Dienst auf ein Jahr halbiert werden kann. Damit würde automatisch auch der Zivildienst deutlich kürzer: statt dreieinhalb Jahre dann 21 Monate. Bis dahin haben Stas und seine Kollegen ihre dreieinhalb Jahre aller-dings längst rum.ENDE
---------------------Infobox:Obwohl das Recht auf Wehrdienstverweigerung bereits in der russischen Verfassung von 1993 verankert ist, trat das Zivildienstgesetz erst am 1. Januar 2004 in Kraft. Doch nur wenige junge Russen entscheiden sich bislang für den Alternativen Staatsbürgerdienst (AGS), wie die offizielle russische Bezeichnung für den Zivildienst lautet. Zurzeit gibt es in der gesamten Russischen Föderation nur rund 500 der so genannten Alternatiwschiki, die in sozialen Ein-richtungen, aber auch im Straßenbau oder als Gefängniswärter zum Einsatz kommen.


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