Russlands unermüdliche Soldatenmütter
Walentina Melnikowa und ihre Kolleginnen bekämpfen Folter in der russischen Armee Moskau/Rostow-am-Don (n-ost) - Trauer tragen die Plakate an der Wand. Übergroß, in roten Lettern, steht auf schwarzem Grund „Tschetschenien“ geschrieben. Eine Landkarte, übersät mit Kreuzen, berichtet stumm von einer Politik, die unzählige Menschenschicksale auf dem Gewissen hat. „Wenn Du für den Krieg stimmst, lege Geld zurück für das Begräbnis Deiner Kinder“, rät Walentina Melnikowa, Generalsekretärin des Komitees der Soldatenmütter und als Russlands streitbarste Frau bekannt. Vom Hauptquartier in Moskau aus reist sie unermüdlich durch die Provinz, um rechtliche Aufklärungsarbeit zu leisten und Eltern dabei zu helfen, ihre nach dem Einzug in die Armee verschollenen Kinder zu finden. „Jahrelang bleiben Mütter und Väter im Ungewissen, was mit ihren Söhnen geschehen ist“, erklärt Melnikowa, die sich für das Engagement in einem Bereich entschieden hat, in dem es mehr Mauern als Wege gibt. „Unsere Soldaten sind nichts wert. Sie werden geschlagen, misshandelt, psychisch unter Druck gesetzt, ja sogar zum Suizid gezwungen. Das ist die herrschende Militär-Hierarchie.“ Walentina Melnikowa, Generalsekretärin des Komitees der Soldatenmütter, in ihrem Moskauer Büro: Foto: Daniela HaußmannDas Komitee der Soldatenmütter wurde bereits 1989 gegründet, ist also noch ein Kind von Michail Gorbatschows Glasnost- und Perestrojka-Periode. Schon damals war Walentina Melnikowa dabei. Gemessen am Bekanntheitsgrad und der Akzeptanz in der Bevölkerung ist das Komitee Russlands erfolgreichste Nichtregierungsorganisation (NGO). Jährlich wenden sich etwa 40.000 Bürger an alle Sektionen der NGO. Mit mehr als 5000 toten Rekruten, die außerhalb eines Kampfeinsatzes ums Leben gekommen sind, haben es die Soldatenmütter jährlich zu tun. Insbesondere handelte es sich dabei um Erschießungen von Kameraden, um Opfer von unglaublicher Erniedrigungen, Folter und Gewalt.„Vergewaltigungen kommen bei den Streitkräften häufig vor“, erklärt Walentina Melnikowa. „Sie ist eine Methode, um die Menschenwürde zu brechen, damit diese Person später auch andere misshandelt.“ In ganz Russland wenden sich deshalb Eltern von Wehrpflichtigen an die Organisation, weil sie sich um Gesundheit, Leben, Ehre und Würde ihrer Söhne sorgen. „Nachdem wir uns mit dem Gesetz beschäftigt hatten, stellten wir fest, dass in Russland nicht jeder zur Ableistung des Militärdienstes verpflichtet ist“, berichtet die oberste Soldatenmutter Melnikowa. „Wir haben festgestellt, dass es in Russland fast überhaupt keine jungen Menschen gibt, die für die Armee tauglich sind. Das hängt mit einer Geschichte voller Kriege, Lager und Ermordungen zusammen.“ Von der Regierung sei ein Gesetz verabschiedet worden, in dem die Tauglichkeitskriterien ausgeführt sind, mit denen sich die Soldatenmütter auseinandergesetzt hätten. Nach dieser Liste sei, laut Melnikowa, niemand tauglich für den Militärdienst.Blutjunge Rekruten bei einer Übung der Russischen Armee. Foto: Tino Künzel
Swetlana Loschkina weiß wovon Walentina Melnikowa spricht. Die Frau aus dem südrussischen Rostow am Don hat ihren Sohn aus dem ersten Krieg in Tschetschenien zurückgeholt. „Zuerst musste er sich grün und blau schlagen lassen und dann wurde er auch noch in den Krieg geschickt, was er mir verschwieg“, berichtet die 68-Jährige. Während ihre Finger auf jene Fotos deuten, auf denen das Gesicht ihres Jungen, gezeichnet von Schlägen und Fausthieben, zu sehen ist. „Ältere Rekruten, denen er unterstand, wollten Geld von ihm erpressen. Er hatte keines und dafür schlugen sie ihn.“ In der russischen Armee, so Loschkina, die vor rund siebzehn Jahren dem Komitee der Soldatenmütter beitrat, müssten die Rekruten ihre Ausrüstung selbst finanzieren und auch Ersatzteile für militärisches Gerät gingen auf ihre eigene Rechnung. Der Druck unter dem die Soldaten stehen sei groß, die Aggressivität untereinander hoch und Kameradschaft oft ein Fremdwort. Rekrut der russischen Armee zu sein, habe Einfluss auf das gesamte Leben der Männer. An den psychischen Folgen ihrer von den Vorgesetzten mit Füßen getretenen Menschenrechte, hätten nicht allein die Soldaten selbst zu leiden. „Die Familien sind ihrer Gewalt ausgesetzt“, fährt die 68-Jährige mit starker Stimme fort. „Was die jungen Männer erdulden mussten, werden sie ihr ganzes Leben nicht vergessen. Gewalt, Alkoholismus, Drogensucht oder Suizid beschreiben nur einen Bruchteil der Auswirkungen, die der Dienst an der Waffe hat.“ Swetlana Loschkina mit Fotos ihres misshandelten Sohnes. Foto: Daniela HaußmannRussland hat die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet, die Konventionen gegen Folter und Zwangsarbeit ratifiziert und bereits 1993 die Menschen- sowie Bürgerrechte im zweiten Kapitel der Verfassung der Russischen Föderation bekräftigt. Darüber hinaus ist das Jahr 1998 durch den russischen Präsidenten zum Jahr der Menschenrechte erklärt worden. Doch all die damit verbundenen Gesetze erfahren Loschkina zufolge eine unvollkommene Umsetzung. „Grundlage der Konflikte in unserer Gesellschaft ist der Widerspruch zwischen den Steuerzahlern, von denen viele bereit und Willens sind, die Rechte und Freiheiten eines Menschen und Bürgers zu nutzen, und den Beamten, welche dem aktiv entgegenarbeiten“, zieht die Soldatenmutter aus Rostow Bilanz. „Der aus diesem Widerspruch heraus entspringende Konflikt zerstört die Sicherheit der Person, der Familie und der Gesellschaft im Ganzen. Deshalb haben wir uns in einer Selbsthilfeorganisation zusammengeschlossen, um unsere Rechte zu verteidigen und durchzusetzen.“Stapelweise legen Ordner und Akten in den Büros der Soldatenmütter Zeugnis über die Verletzungen des geltenden Rechts ab. Bilder von grün und blau geschlagenen Männern, ärztliche Gutachten und juristische Dokumente berichten von geschundenen Schicksalen die den Weg zu Hilfe und Rat suchen. „Die größte Zahl der Gesetzesbrüche steht im Zusammenhang mit der ungesetzlichen Einberufung von jungen Männern, die das Recht auf Zurückstellung haben oder aus gesundheitlichen Gründen untauglich sind“, erklärt Walentina Melnikowa jene Situation die ihre tägliche Arbeit ausmacht. „Untaugliche Männer werden einberufen, auch solche mit Nervenkrankheiten, Schizophrenie, Epilepsie, AIDS oder Hepatitis.“ Söhne würden zur Ableistung des Wehrdienstes in den Hochschulen, der Metro oder auf Spaziergängen festgenommen, erzählt Melnikowa. Häufig dringe die Miliz in die Wohnungen von Familien ein, um sie abzuholen. „Die meisten Mütter erfahren den Aufenthaltsort ihrer Kinder nach der Festnahme erst, wenn sie von ihnen aus der Militäreinheit angerufen werden.“Im Frühjahr 2006 wurde der Fall des 19-jährigen Andrej Sytschow auch in der westlichen Welt bekannt. Der Rekrut wurde in einer Panzerfahrerschule in Tscheljabinsk von mehreren Vorgesetzten stundenlang misshandelt. Als Folge mussten ihm beide Beine, die Genitalien und ein Finger amputiert werden. „Sytschow ist nur ein Beispiel, das exemplarisch für die vielen Schicksale steht, die der Wehrdienst hervorbringt“, resümiert Walentina Melnikowa. „Bei uns in Russland ist die Armee nicht im Stande, den Persönlichkeitsschutz zu gewährleisten. Sie kann die Gesellschaft nicht schützen, vielmehr stellen Armee und Miliz das Schlimmste für die Würde des Menschen dar.“ Kontakt:
Verband der Komitees der Soldatenmütter Russlands
Lutschnikow per. 4/3, kom.5
RUS-10100 Moskau
Tel. 007-495-9282506
E-Mail: ucsmr1989@yahoo.com
www.ucsmr.ruEnde