Sturm über den Ruinen der Politik
Zwei Jahre nach der Tragödie von Beslan befinden sich die Menschen immer noch im permanenten Ausnahmezustand Beslan (n-ost) - „Verstummt sind die Lieder der Kinder“, steht übergroß in schwarzen Lettern auf die vom Munitionshagel zersiebte Wand geschrieben. Weggeworfenes und Zertretenes weist entlang eines schmalen Ganges zurück auf jenen 1. September 2004, an dem das Trauma einer ganzen Region Gesichter und Namen bekam. Der Sturm, der über dem benachbarten Tschetschenien tobte, hatte an diesem Tag die kleine Kaukasus-Republik Nord-Ossetien erreicht. Seine Gewalt riss nicht nur die Mauern jener Schule ein, die zum Ort einer Tragödie wurde. Er traf eine ganze Stadt bis ins Mark. Dort wo die Straßen in Beslan einst Menschen miteinander verbanden, scheinen zwei Jahre nach der Tragödie die Wege abgeschnitten. „Ein Ort im permanenten Ausnahmezustand“, erklärt Sergej Basajew, Caritas-Büroleiter in Nord-Ossetien. Ihm sind die Bilder von einst noch so gegenwärtig, als wäre alles erst gestern geschehen. „Durch den Ort zieht sich ein tiefer Graben“, sagt Basajew und deutet auf dem Schulgelände auf das verkrustete Blut zwischen den Einschusslöchern. „Es gibt Betroffene die eine Entschädigung vom russischen Staat bekamen. Andere konnten nicht nachweisen, dass auch ihre Kinder und Angehörigen direkt betroffen gewesen sind. Sie gingen leer aus, wie jene die das Glück hatten, verschont geblieben zu sein.“ Doch das schaffe Zwiespältigkeiten und Neider. „Warum bin ich nicht dabei gewesen“, laute die ihm oft gestellte Frage, die stellvertretend für den Unmut vieler stehe. „Beslan ist ein reicher Ort geworden. Große Summen sind hierher geflossen, nicht nur national, sondern auch international“, berichtet der ossetische Caritas-Chef. Eine Mutter trauert auf dem Friedhof von Beslan um ihre Tochter, die beim Massaker im September 2004 ums Leben kam. Foto: Daniela HaussmannJahrelang hat Moskau den Nord-Kaukasus vernachlässigt und, wenn es zu spät war, allein mit der Waffe zu befrieden versucht. Die Armutsmisere in der Region ist groß. Das Durchschnittseinkommen liegt nur bei der Hälfte des russischen Einkommens und die Arbeitslosenrate rangiert bei mehr als 60 Prozent. „Das schafft Ungleichheiten, Enttäuschung und Wut“, erklärt Natalia Schechatschewa, Mitabeiterin der Menschenrechtsorganisation Memorial. „Die Migrantenströme in der Region setzen die Bevölkerungen in den Republiken zusätzlich unter Druck und verstärken das soziale Vakuum. Korruption, Machtmissbrauch sowie Moskaus eindimensionale Politik verschlechtern die Lage weiter. Die Chance auf eine friedliche Lösung wurde in den Ruinen begraben.“ In jeder Schule hängen Tafeln die über den Schutz und das Verhalten bei Geiselnahmen aufklären. Regelmäßig werden Schüler, wie Lehrer, in einem Training auf den Ernstfall vorbereitet. „Die Angst ist groß. Gerüchte über gewaltsame Zwischenfälle genügen, um Beslan in Panik zu versetzen“, weiß Psychologin Raisa Dudarowa, die Kinder, wie Erwachsene, in Beslan sozial-psychologisch bei ihrer Trauma-Bewältigung betreut. „Verzeihen ist schwer. Die Wut ist groß. Sie lässt sich nur langsam abbauen. Die Folgen der Traumatisierung und damit der Tragödie selbst, kann niemand abschätzen. Inwiefern sich das psychisch erlittene Leid, vor allem bei den Kindern, im Erwachsenenalter bemerkbar machen wird, ist ungewiss.“Kinderfeste in Beslan werden inzwischen mit Hilfe von Kalaschnikows gesichert. Foto: Daniela HaussmannDie Tatsache, dass bei dem Überfall auf Beslans Schule auch zwei Inguschen beteiligt waren, lässt alte Erinnerungen an die bewaffneten Auseinandersetzungen von 1992 wach werden. 1944 unter Stalin nach Zentralasien deportiert und 1957 unter Nikita Chruschtschow wieder rehabilitiert, kehrten die Inguschen zusammen mit den deportierten Tschetschenen aus ihrem Exil zurück. Doch ihre einstige Heimat im Bezirk Prigorodny wurde dem Territorium Nord Ossetiens zugesprochen. Im April 1991 verabschiedete der Oberste Sowjet ein Gesetz zur Rehabilitierung der unterdrückten Völker, das veranlasste, dass der einst zu Inguschetien gehörende Bezirk Prigorodny wieder an dieses zurückfallen sollte. Doch wie und vor allem in welchem Zeitraum das geschehen sollte, spezifizierte die Regelung nicht. Seit dem Krieg zwischen Ossetien und Inguschetien vor 14 Jahren, warten die Inguschen auf eine Lösung des Konflikts zu ihren Gunsten. Nahe der Grenze zur ossetischen Nachbarrepublik haben sich zig Tausende in mit Kartonage isolierten Holzbaracken angesiedelt. Eine Arbeit finden sie nicht.Der Krieg in Tschetschenien hat seine Entgrenzung gefunden und lässt bislang ruhendes Konfliktpotential in den übrigen Kaukasus-Republiken wieder aufflammen. „Was in Beslan geschah, hat weitere Befürchtungen geschürt, dass jederzeit ein Angriff stattfinden könnte“, erklärt Ludmilla Gabojewa, von der Organisation für Konfliktlösung und Friedenserziehung. „Wir versuchen Menschen beider Seiten an einen Tisch zu bringen. In Schulen versuchen wir Projekte entlang der ossetisch-inguschischen Grenze zu initiieren, die Kinder und Erwachsene beider Seiten zusammenbringen.“ Nach Beslan wurden diese Bemühungen zerstört, wie die Leiterin in der Gebietshauptstadt Wladikawkas erklärt. „Die Wut in Beslan ist groß. Doch die Tatsache, dass zwei Inguschen an dem Überfall beteiligt waren, hat nichts mit dem Konflikt in Prigorodny zu tun, wie danach vielfach behauptet wurde“, macht Gabojewa deutlich. „Durch den Konflikt in Tschetschenien, der durch Überfälle und Anschläge in die übrigen Republiken getragen wird, reißen alte Wunden auf, die nie verheilt sind.“Marina Farniewa, die Mutter jenes Jungen, den die Geiselnehmer in ihrem Video mit verschränkten Armen hinter dem Kopf in die Knie zwangen, kann nicht vergessen. „Tagsüber laufen wir der Nacht hinterher, in der wir auf den Morgen warten“, berichtet die Frau aus Beslan. „Mit dem Verstand wissen wir, dass wir nicht alle Inguschen verantwortlich machen können, doch das Herz spricht eine andere Sprache. Der erste Trinkspruch, den wir bei Festen ausbringen, richtet sich an die Toten in der Schule. Danach ist alle Freude verflogen.“Dass die Russen nicht mit sich verhandeln ließen ist den Einwohnern in Beslan unverständlich. „Als die Einheiten hier ankamen, war mir klar, dass es ein schlimmes Ende nehmen wird“, erinnert sich Farniewa an jenen 3. September 2004, der in ein Inferno mündete. „Russland wird den Kaukasus verlieren. Der Zeitpunkt ist ungewiss, aber er wird kommen. Und es wird keine friedliche Abspaltung sein. Das machen Grozny, Naltschik und Beslan deutlich. Eine Abspaltung käme in Moskau einem Eingeständnis von Schwäche und Ohnmacht gleich, gegenüber dem Westen wie der eigenen Bevölkerung.“ Neben den ökonomischen Auswirkungen, die eine solche Loslösung nach sich ziehen würde, ist nach Ansicht Marina Farniewas, die Vorstellung einer auseinanderbrechenden Föderation einer der schwärzesten Alpträume im Kreml. „Seit jener Tragödie, die in ihrem Ausmaß viel zu groß ist, um sie auch zwei Jahre danach zu begreifen, wird jedes Kinderfest, jede Schule von bewaffneten Sicherheitsleuten beschützt“, so Ludmilla Gabojewa, die sich in einem Bereich engagiert, in dem mehr Mauern stehen als es Wege gibt. „Unsere Arbeit für gegenseitige Verständigung ist vom Idealismus getragen. Doch im Kleinen haben wir Erfolge, auch wenn Beslan uns um Jahre zurückgeworfen hat.“ Mit ihrer Arbeit für Frieden und Verständigung in dem Dorf Chermen, das genau auf der Grenze zwischen Inguschetien und Nord Ossetien liegt, brachten Gabojewa und ihre Mitstreiter nicht allein einen Austausch auf den Weg, sondern auch Freundschaften. „Nach Beslan treffen sich die befreundeten Inguschen und Osseten heimlich“, fährt sie mit gesenktem Blick fort. „Die Grenze können sie nicht überqueren. Das wäre gefährlich, um nicht zu sagen, lebensmüde. Was bleibt ist die Hoffnung, die wir in die Kinder setzen und deren stereotype Vorstellungen von der jeweils anderen Seite die wir durchbrechen wollen. Sie sind unser Multiplikator in der Zukunft.“Ende---------------------------------------------
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