Die dunkle Seite von Warschau
Praga ist verrufen – doch hier lebt die Seele der polnischen HauptstadtWarschau (n-ost) - „Die Weichsel teilt Warschau wie eine Berliner Mauer in ein besseres Westufer und ein schlechteres Ostufer“, schreibt der Warschauer Journalist Edwin Bendyk. Der Vergleich trifft es nicht ganz. Tatsächlich ähnelt die Weichsel im Stadtzentrum einer Schlucht, einem Burggraben, über den man von westlicher Seite ein paar Zugbrücken geworfen hat. Zäh und schwarz quält sich unter ihnen der Fluss dahin, so als wäre von den Burgzinnen Pech herabgeflossen.Auf der anderen Seite fängt Asien an, sagen die Hochnäsigen unter den Warschauern und meiden den dort gelegenen Stadtteil. Das 1916 eingemeindete Praga ist anders und daran sind auch Deutsche und Russen schuld. Erstere machten im Zweiten Weltkrieg nach dem Warschauer Aufstand die Stadt am Westufer dem Erdboden gleich, letztere eroberten Praga am 15. September 1944 und sahen dann vier Monate lang zu, wie die Deutschen auf der anderen Seite der Weichsel ihr Zerstörungswerk vollendeten. Warschau-West wurde als sozialistischer Beton(alp)traum mit rekonstruierter Retortenaltstadt wieder errichtet. Praga ist stehen geblieben – als polnisches Trauma. Der APA-Guide Polen ringt sich am Ende von 20 Seiten Warschau nur ein paar gequälte Sätze über das andere Ufer ab. Von „Industriearchitektur der Jahrhundertwende“ mit „unverfälschtem und bescheidenem Charme“ ist die Rede, die gerne für Filmaufnahmen verwendet werde. Auf den „Jarmark Europa“ – den gigantischen Freiluftmark rund um das brachliegende „Fußballstadion des Zehnten Jahrestages“ wird kurz verwiesen, für viele Warschauer der Schandfleck schlechthin. Und dann kommen denkwürdige Sätze: „Gleichzeitig gehört dieses Stadtviertel zu den am meisten heruntergekommenen und gefährlichsten Gegenden der Stadt. Von nächtlichen Spaziergängen ist daher unbedingt abzuraten – begegnet man Straßengangs, so gehören die selten zu Filmteams, sondern sind meist real.“Auf dem "Jarmark Europa" lassen sich die skurilsten Dinge kaufen, Foto: Andreas MetzWer Warschaus Kehrseite besuchen will, nimmt am besten die gewaltige Most Poniatowskiego. Mit ihren burgähnlichen Brückenköpfen füllt sie die Rolle der Zugbrücke glänzend aus. Straßenbahnen schaufeln diejenigen, die auf jeden Zloty achten müssen, über die Weichsel zur Haltestelle „Rondo Waszyngtona“ am Eingang des „Jarmark Europa“. Teekessel, Sonnenbrillen, Nylonstrümpfe, Bettwäsche, Parfum, Mobiltelefone, Holzlöffel, Schweizer Taschenmesser, Angelhaken, Pfefferspray. Der „Jarmark Europa“ ist voller unmöglicher Produkte und ebensolcher Geschichten. Fast alle beginnen weiter östlich, an den armen Rändern Europas. Die von Natascha zum Beispiel, einer Krankenschwester aus einem ukrainischen Nest nahe der Grenze zur Republik Moldau. Ganz oben am Rand der Stadionschüssel hat sie sich postiert, wo der Wind bläst und am meisten Zeit bleibt, vor Polizisten in Deckung zu gehen. Oben stehen die, die in der Hierarchie ganz unten sind: Schwarzafrikaner, Armenier, Russen. Wenn Natascha sich dreht, sieht sie am Westufer rund um den stalinistischen Kulturpalast die Kathedralen des Kapitalismus in den Himmel wachsen. Warschau-Downtown, die Cash-Maschine Polens. Seit fünf Jahren steht Natascha hier. Je höher die Türme wuchsen, desto tiefer sanken ihre Chancen. „Alles wird schlechter“, klagt sie. „Der neue Präsident will den Markt schließen. Täglich kommt die Polizei.“ Natascha handelt mit Hollywoodfilmen und Computerspielen. Schwarzgebrannte DVD. Zehn Zloty (2,50 Euro) das Stück. Zu Hause in der Ukraine warten Monatslöhne von 50 Euro und zwei Töchter, deshalb macht sie das. Deshalb steht sie hier mit heißer Ware neben den „CD-Handel verboten“-Schildern. Bei Natascha gibt es die blanken Platten zusammen mit schlecht gedruckten Papier-Covern in Plastikfolie verschweißt. Alles wiegt fast nichts und kann wie ein Pokerspiel kurz aufgefächert und schnell wieder zusammengeschoben werden, falls Polizei im Anmarsch ist.Unten am Anstoßkreis versumpft derweil der Rasen. 1983 hat Papst Johannes Paul II. hier noch eine Messe gelesen. 1989 mietete die Firma „Damis“ das brachliegende Stadion mitsamt dem Parkplatz. Bis hinaus zur benachbarten Bahnstation hat sich ein Labyrinth von Verkaufszelten und Blechcontainern angesiedelt. Sowjetische Münzen, gefälschte Fußball-Trikots, Kaviar, schwarze Sandalen, Dessous. Die besseren Plätze machen Vietnamesen und Polen unter sich aus. Vor allem die Asiaten sind es, die dem Markt ihren Stempel aufdrücken. Gekonnt manövrieren sie Sackkarren vollgestapelt mit karierten Plastiktaschen mit reiner Muskelkraft durch die schmalen Gänge. In Praga beginnt Asien – es ist tatsächlich so.5000 Marktstände sollen es insgesamt sein. Dazu kommen mobile Bauchläden wie der von Natascha. Vor ein paar Jahren noch erzielten alle Händler nach Schätzungen von Experten einen höheren Umsatz als das damals größte polnische Unternehmen. Die Betreibergesellschaft hat einen eigenen Sicherheitsdienst angeheuert. In der grünen Blechcontainerlandschaft gibt es sogar eine russischsprachige Bibliothek, einen buddhistischen Tempel und ein eigenes Polizeirevier. An dem negativen Image konnte das nichts ändern. Angeblich wird der Markt durch einen Mafia-Vorstand regiert, in dem Vietnamesen, Armenier, Russen, Tschetschenen, Bulgaren und Georgier vertreten sein sollen. Schon lange wird dem Jahrmarkt der Tod prophezeit, nun schleicht er sich wirklich langsam heran. Toilettenfrau Josefa arbeitet seit elf Jahren auf dem "Jarmark Europa", Foto: Andreas Metz„Ja, jetzt geht hier alles zugrunde“, sagt Josefa gutgelaunt. Bei ihr gehen sie alle ein und aus, Käufer, Händler, Illegale, Polizisten und Kriminelle gleichermaßen. Einen Unterschied zwischen letzteren gebe es sowieso nicht, lacht die Rentnerin, die seit elf Jahren als Toilettenfrau auf dem Jahrmarkt arbeitet. Meist macht sie die Frühschicht von 5 bis 14 Uhr. Ein windschiefer Container ist ihr Reich. Rechts sind zwei Eingänge für die Damen, links einer für Herren. Dazwischen sitzt sie hinter einem Glasfenster und sortiert Wechselgeld. Ein Zloty (25 Cent) kostet das große Geschäft, die Männer können für 30 Groszy auch die kleine Variante buchen. „Der Markt soll geschlossen werden, aber noch fehlt das Geld für ein neues Fußballstadion“, hat Josefa gehört. Wahr ist, dass der polnische Staat das Stadion für die gemeinsame Bewerbung Polens und der Ukraine für die EM 2012 instand setzen will. Wieder einmal ein Plan.
„Jarmark Europa“ - ein genialischer Name. Symbol für den Urknall 1989, für den kapitalistischen Aufbruch Osteuropas und des ganzen untergegangenen Sowjetimperiums bis Wladiwostok. Denkmal für Träume und Alpträume, Glanz und Elend. Spontaner, unregulierter Handel und Wandel. In EU-Zeiten ein Auslaufmodell, wie das übrige alte Praga. Szenen wie nach dem Zweiten Weltkrieg, Foto: Andreas MetzDie Hinterhöfe von Praga gehören zu den dunkelsten in ganz Europa, Foto: Andreas MetzDie Ausläufer des „Jarmark Europa“ reichen in nördlicher Richtung bis zur Ulica Targowa, der Marktstraße. Auch hier sitzen Kleinkrämer am Straßenrand, verticken Blumen, Schnürsenkel, Einlegesohlen, Modeschmuck oder die letzte Ernte aus dem Vorgarten. Manche Häuserfront in den Seitenstraßen ist noch von Einschusslöchern zersiebt, der letzte Putz weicht blanken, rußbraunen Backsteinen, von Balkonen sind nur rostige Stahlträger übrig und die Treppenaufgänge und Hinterhöfe sind vermutlich die finstersten und verkommensten in ganz Europa. Doch sie sind eine echte Sensation: Mit Pech trifft man auf liegen gebliebene Alkoholiker. Mit Glück hört man Kinderlachen, findet irgendwo noch eine kyrillische Inschrift aus der Zarenzeit oder ein verstaubtes Jugenstilrelief. Fast schon garantiert ist ein Opferstock für die heilige Mutter Gottes. Wenn das Licht für pflanzliches Leben nicht ausreichend ist, liegen bunte Plastikblumen zu ihren Füßen. Meist ist ihr Schaukasten mit Christbaumkerzen umrankt, die ein bisschen Helligkeit spenden. Das Geld mag auf der anderen Seite der Weichsel wohnen, die Seele Warschaus aber überdauert in den Hinterhöfen von Praga.Die Seele von Warschau: In vielen Hinterhöfen Pragas wird der Gottesmutter gedacht, Foto: Andreas Metz Als erste haben das diejenigen bemerkt, die immer auf der Suche nach den neuesten Trends sind. „Es beginnt hier etwas. Künstler, Lebenskünstler, Schauspieler ziehen her“, sagt die Studentin Elzbieta, die seit fünf Monaten in Praga bedient. Über dem Eingang der Bar „W oparach absurdu“ – „In absurden Nebeln“ - in der Ulica Zabkowska hängt eine schwarze Riesenspinne. Hier erträumt sich Elzbieta eine Zukunft für Praga. „Man könnte so etwas wie Kazimierz daraus machen“, sagt sie und meint einen früher jüdisch geprägten Stadtteil von Krakau, der heute ein Touristenmagnet ist. Immerhin gibt es auch in Praga noch eine alte Synagoge. „Praga, sagt man, sei gefährlich. Aber ich habe keine Probleme hier, die Leute sind in Ordnung.“Julita Delbar, die vor eineinhalb Jahren im Nachbarhaus einen Fotoladen eröffnet hat, sieht das ähnlich. „Es gibt Alkoholiker, arme Leute, aber Mafia? Das ist eine Legende. Es gibt Leute von der anderen Seite, die fahren aus Angst nicht hierher“, lacht sie, doch Praga sei im Kommen.Stärkster Beleg dafür sind zwei Fabrikkomplexe, die sich zu Szenetreffs entwickelt haben. Die „Fabryka Trzciny“ einer alten Marmeladenfabrik hat der Komponist Wojciech Tzcinski in ein Veranstaltungszentrum umgebaut, in dem von Jazzkonzerten bis zur Modenschau alles geboten wird. Ähnlich entwickelt sich die alte Wodkafabrik „Koneser“ am Ende der Ulica Zabkowska. In dem Backsteinkomplex aus dem Jahre 1897, der von seinen Ausmaßen her an die Kulturbrauerei in Berlin Prenzlauer Berg erinnert und mit schuld daran sein mag, dass in Praga die Alkoholprobleme besonders groß sind, wird heute nur noch auf kleiner Flamme produziert. Nun gibt es Raum für Künstler wie Magdalena Przezdziak. Die junge Fotografin hat vor zwei Jahren die Galerie „Luksfera“(Lichtsphäre) gegründet. „In Praga gibt es Platz, die Räume sind billig“, bestätigt die Galeristin, die Fotoarbeiten in- und ausländischer Künstler ausstellt. Nach Praga kam sie noch aus einem anderen Grund. „Wir organisieren jeden Monat Workshops mit bekannten polnischen Fotografen. Praga hat eine sehr schöne Atmosphäre. Hier gibt es interessante Plätze.“ Ja, sie fühle sich hier sicher, sagt sie, obwohl die Brezka-Straße ganz in der Nähe, als gefährlichste Straße Warschaus gelte. Mit dem „Jarmark Europa“ hat die Fotografin so ihre Probleme. „Es gibt da Leute, die schlafen im Garten oder im Park. Das ist ein großes Problem. Andererseits weiß ich, dass viele Leute dort Arbeit finden oder billig einkaufen können. Doch dieser Ort sollte weiter außerhalb der Stadt sein.“Wie die Zukunft des Jahrmarkts und Pragas aussehen könnte, lässt sich an der Aleja Solidarnosci studieren. Die Straße teilt Praga in zwei Hälften. Gegenüber der goldenen Türme der orthodoxen Marienkirche ist ein Ufo gelandet - ein gigantisches Einkaufszentrums der französischen Kette Carefour. Es ist eine wohltemperierte, gut überwachte Shoppingwelt. So vorhersehbar, dass jetzt sogar kritische Warschauer den Weg über eine der sieben Weichselzugbrücken nehmen, um hier einzukaufen.
Shopping-Mall, Kulturmekka, Capuccino-Meile, EM-Stadion, Touristentipp. Der Lauf der Zeit scheint unaufhaltsam. Doch noch gibt Asien sich nicht ganz geschlagen, noch wehrt sich das alte Praga mit seinen Mitteln: Am nächsten Morgen steht der Stadtteil im Polizeibericht der Tagezeitung „Dziennik“ einmal mehr ganz oben.Info-Kasten:
Fotogalerie „Luksfera“ in der
Wodkafabrik „Koneser”
Ul. Zabkowska 27/31
www.luksfera.plKulturzentrum
Fabryka Trzciny
Ul. Otwocka 14
www.fabrykatrzciny.plUnterkunft:
Eine preisgünstige und charmante Unterkunft bieten die beiden Bote Aldona und Anita, die unterhalb der Poniatowski-Brücke am westlichen Weichselufer liegen.
Die Einzelkabine mit Dusche auf dem Gang gibt es ab 65 Zloty (16 Euro).
Tel. 0048 (0) 22-6285883
Buchbar auf Englisch über www.staypoland.comEnde--------------------------------------------------------------------
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