Russland

Als Europa den Gulag bestreikte

Der Sachse Heini Fritsche erlebte 1953 den berühmtesten Lageraufstand der Sowjetunion in Workuta mit – und dessen blutiges Ende Moskau (n-ost) – Heini Fritsche wurde im August 1951 als Regimegegner in der jungen DDR verhaftet und von den sowjetischen Militärbehörden zu 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Der junge Volkspolizist kam wie viele andere Deutsche ins polare Kohlerevier Workuta, wo im Juli 1953 ein Streik ausbrach. Nach Stalins Tod hatte sich die Hoffnung der Häftlinge auf eine Amnestie nicht erfüllt, nun setzten sie sich solidarisch gegen den Arbeitsterror und die Lagerbehandlung zur Wehr. In das politische Vakuum hinein schlug der Staat nicht sofort zurück. Nach einer Woche voller Euphorie eröffneten Schützen dann jedoch das Feuer auf die Streikenden und töteten 64. Fritsche überlebte schwer verletzt. Tino Künzel sprach mit dem heute 76-Jährigen.
FRAGE: Herr Fritsche, was hat das Regime Ihnen zur Last gelegt, als Sie damals kurz nach Gründung der DDR festgenommen worden sind?ANTWORT: Spionage, antisowjetische Hetze, Bildung einer konterrevolutionären Vereinigung, Sabotage – was der berüchtigte Paragraf 58 eben so hergab.
FRAGE: Wie sind Sie denn in dieses Räderwerk geraten?ANTWORT: Ich war bei der Volkspolizei, die in Wirklichkeit wie eine Armee geführt wurde. Wir haben uns damals gefragt: Was ist eigentlich, wenn es zu einem Arbeiteraufstand kommt? Was wird dann von uns verlangt? Die Gegensätze zwischen der Arbeiterschaft und der SED zeichneten sich ja schon ab. Wir wollten nicht zum Kanonenfutter werden und uns auch nicht denselben Vorwurf gefallen lassen müssen wie unsere Väter und Großväter: Ihr habt Euch nicht gewehrt! Unsere Generation war ja mit den Nazis aufgewachsen, mit dem Krieg, mit Lügen und Propaganda. Wir kannten das alles. Und jetzt passierte dasselbe unter anderen Vorzeichen, diese heimliche Militarisierung, die man anderen vorhielt, während man sich selbst nach außen als friedliebende Nation darstellte. Dagegen haben wir uns empört.
FRAGE: „Wir“?ANTWORT: Eine Handvoll Offiziere und Unteroffiziere. Wir wollten öffentlich machen, was in der sowjetischen Besatzungszone vor sich ging, den Burschen die Maske vom Gesicht reißen. Kontakte hatten wir zum Ostbüro der SPD in Westberlin und zum RIAS, dem Rundfunk im amerikanischen Sektor. Aber es gab eine undichte Stelle, einer aus der Gruppe hat uns an die Stasi verraten. Und von der sind wir nach 14 Tagen an die sowjetischen Militärbehörden ausgeliefert worden.
FRAGE: In Anbetracht des Urteils: Haben Sie nicht manchmal gedacht, der Verstand spiele Ihnen einen furchtbaren Scherz? Der Krieg überstanden, Aufbau einer neuen Gesellschaft – und Sie geraten in eine Situation, die Ihnen völlig unwirklich vorgekommen sein dürfte.ANTWORT: Da muss ich Ihnen sagen: Man wusste durchaus, dass man verschwinden konnte. Mein Schulfreund war von einem Tag auf den nächsten weg, den hatten sie ohne Prozess ins KZ Buchenwald verschleppt, wo jetzt Regimegegner interniert wurden. Wir wussten auch, dass es in der Sowjetunion Lager gab wie im Dritten Reich. Mein Großvater sprach immer von den menschewistischen Genossen, die dort schmorten. Das war alles nicht unbekannt.
FRAGE: Wie lange dauerte der Transport nach Osten?ANTWORT: Am 24. März 1952 sind wir in Berlin abgefahren und am 11. Mai bei Schneesturm, Gebrüll und Hundegebell in Workuta eingetroffen. Die Wagons der wechselnden Züge und Transporte waren äußerlich unverdächtig, innen hatten sie Zellen, mit Pritschen auf drei Etagen. Verpflegt wurden wir mit Brot und gepökeltem Fisch, der einen solchen Durst verursachte, dass wir eimerweise Lokomotivwasser getrunken haben. Am Körper hatten wir immer noch die Sachen, in denen wir verhaftet worden waren, bei mir also die Polizeiuniform. Regelmäßig ging es in die Banja, aus der kamen wir halbtot wieder raus. Wir waren ja schlapp wie sonst was. In Moskau wurden uns die Haare geschoren, an den verschiedensten Stellen des Körpers. Von Frauen! Ich darf gar nicht daran denken.
FRAGE: War Ihnen Workuta ein Begriff?ANTWORT: Weder mir noch den anderen Politischen, und wir erfuhren auch unterwegs nichts. Anders die Kriminellen, die mit ins Lager gebracht wurden, die waren immer bestens informiert. Einmal, in einem Zwischenlager südlich von Moskau, haben sie rebelliert, als ihnen klar wurde, wohin die Reise geht. Ein Oberst Eisenschtejn hat sie antreten lassen und auf Russisch zurechtgestutzt. Ich erinnere mich an seine Worte: Ihr kommt dahin, wo weder Sonne noch Mond scheint! Das waren also auch unsere Aussichten: weder Sonne noch Mond. Zumindest hat Eisenschtejn aber dafür gesorgt, dass die Deutschen, die auf der Fahrt ausgeplündert worden waren, ihre Sachen zurückkriegten. Die Kriminellen wurden regelrecht durchgeprügelt.
FRAGE: Gab es viele Deutsche im Lager?ANTWORT: 180, wenn es hoch kommt. Eine Minderheit bei rund 4 000 Häftlingen. Die meisten waren Westukrainer, Balten, Polen, viele gebildete, politisch denkende Leute darunter, bis hin zu Ministern. Untergebracht hat man uns in Baracken zu etwa 160 Leuten.
Ehemaliges Lagergelände, Workuta. Foto: Tino KünzelFRAGE: Und arbeiten mussten Sie in der Kohlegrube.ANTWORT: Jur-Schor hieß die. Ich hatte natürlich keine Ahnung vom Bergbau und vorher überhaupt noch nie körperlich gearbeitet. Es dauerte ein Jahr, um mich an die Bedingungen zu gewöhnen. Mit meinen langen Storchenbeinen bin ich da unten rumgestakst und habe mir am Anfang ständig den Kopf angerannt. Das waren schwere Zeiten, weil man ja eine Norm zu erfüllen hatte, von der die Essensration abhing. Und wer die Norm gefährdete, der bekam zu spüren, was die anderen in der Brigade darüber dachten.
FRAGE: Das war dann also Ihre Gegenwart – und Zukunft. Ihr ganzes Leben lag noch vor Ihnen, aber fast die Hälfte davon sollten Sie sich im Nirgendwo des russischen Nordens abschinden. Wie erträgt man so eine Vorstellung?ANTWORT: Manche haben sich selbst verstümmelt, um arbeitsuntauglich geschrieben zu werden. Ich persönlich war mir immer sicher, dass ich keine 25 Jahre dort verbringen muss, einfach weil das System nicht so bleiben konnte, wie es war.
FRAGE: Können Sie sich noch an den 5. März 1953 erinnern, als Stalin starb?ANTWORT: Und ob, so etwas vergisst man nicht. Ein klarer Tag, es lag noch Schnee. Wie es um Stalin stand, hatten wir schon mitbekommen. In der Nähe der Stolowaja gab es einen Schaukasten: links die „Istwestija“, rechts die „Prawda“. Da konnte man alles nachlesen. Und dann hörten wir auch Nachrichten, bei uns lief ja der Moskauer Rundfunk über die Lautsprecher. Dort spielten sie schon die ganze Zeit ernste Musik, zum Teil sehr schöne, klassische. Und auf einmal wurde die Sendung unterbrochen, um zu verlesen, dass der große Führer der Völker gestorben war. Fast im selben Moment gingen überall die Sirenen, die Dampfpfeifen an.
FRAGE: Und die Reaktion der Häftlinge?ANTWORT: Wie ein Triumph war das! Einige haben Freudentänze aufgeführt. Es fiel das Wort Schwein. „Das Schwein ist tot.“ Man hat sich gegenseitig gesagt: Jetzt wird alles anders. Jetzt wird sich das Schicksal wenden. Jetzt werden wir’s denen zeigen. Wir hatten auf einmal wieder Hoffnung.
FRAGE: Wie war die Zeit danach?ANTWORT: Die Gerüchteküche brodelte. Wir Häftlinge forderten eine Überprüfung unserer Urteile. Das Verhältnis zu den Wachen entspannte sich etwas. Aber im Grunde änderte sich nicht viel. Die Appelle, die Nummern – das alles blieb, wie es war. Ein paar Leute wurden freigelassen, ohne dass man hätte erkennen können, nach welchem Prinzip. Auch Deutsche waren darunter. Ich machte eine seelische Krise durch. Mich überfiel plötzlich das Gefühl: Ich komm’ nicht mehr nach Hause, ich erlebe das nicht mehr. Wie man eben so Vorahnungen hat.
FRAGE: War die politische Tonlage inzwischen moderater geworden?ANTWORT: Zwei, drei Monate haben wir gedacht, wir sind im falschen Film: Auf einmal gab es sogar in der Ortszeitung „Sapolarje“ so etwas wie Kritik. Dann war es damit aber genauso schnell auch wieder vorbei. Ende Juni 1953 wurde Geheimdienst-Chef Berija verhaftet – angeblich als amerikanischer Agent. Wir hielten uns die Bäuche vor Lachen: Also hatte ein amerikanischer Agent dafür gesorgt, dass wir im Lager saßen! Solch dumme Agitation brachte uns nur noch mehr gegen das System auf. Allmählich formierte sich Widerstand. Es gab Sabotageakte im Schacht. Und vor allem die Polen haben ganz gezielt auf einen Streik hingearbeitet.
FRAGE: Nun waren ja Ihr Schacht und Ihr Lager in Workuta bei weitem nicht allein. Erfuhren Sie denn, was sich woanders tat?ANTWORT: Indirekt. Unser Sprengmeister war ein Russlanddeutscher namens Weber. Den hatte man nach Workuta verbannt, er lebte nicht im Lager, sondern nahe des Schachts Jur-Schor in der gleichnamigen Siedlung, die unsere Leute gebaut hatten. Die „Freien“ konnten sich im Gegensatz zu uns innerhalb Workutas bewegen. Und dieser Weber also erzählte uns vom Streik im Schacht 7, so um den 20. Juli herum. Das hat die Unruhe bei uns nur verstärkt. Alles diskutierte und rätselte.
FRAGE: Was hat das Fass zum Überlaufen gebracht?ANTWORT: Es muss der 24. oder 25. Juli gewesen sein, wir fahren von der Nachtschicht aus und stellen uns zum Zählen auf. Plötzlich gibt es vorn eine Reiberei, von hinten sehen wir, wie auf Häftlinge mit Brettern eingeschlagen wird. Da brach der ganze Hass aus uns heraus. Und auf einmal der Ruf: Wir lassen uns nicht mehr schlagen! Und die gesamte Nachtschicht weigerte sich, ins Lager zurückzugehen. Die Soldaten standen da wie begossene Pudel. Als die erste Schicht merkte, was los ist, haben die auch aufgehört zu arbeiten. Und die zweite Schicht ging gar nicht erst aus dem Lager, als wir nicht wieder reinkamen. Der Streik war perfekt. Als wir später ins Lager zurück sind, hochdiszipliniert und ohne einen Mucks, schrien und fuchtelten die Konvoisoldaten nicht herum wie sonst. Die benahmen sich wie englische Krankenschwestern.
FRAGE: Dass Sie nicht wieder an die Arbeit gegangen sind, hat man einfach so geschluckt?ANTWORT: Nach ein paar Tagen bekamen wir Besuch von Generalstaatsanwalt Rudenko, dem sowjetischen Hauptankläger beim Nürnberger Kriegsverbrechertribunal. Der beschimpfte uns wie ein Rohrspatz, wir seien Verbrecher und sabotierten die Wirtschaft, wofür wir noch zu büßen hätten. Als Antwort kriegte er zu hören, er solle sich aus dem Lager scheren, die Verbrecher seien sie, nicht wir. Es fehlte nicht viel, und er hätte Prügel bezogen. Ansonsten war es eigentlich sehr ruhig. Beide Seiten haben sich beäugt. Uns wurde eine Regierungsdelegation aus Moskau versprochen.
FRAGE: Wie war die Stimmung unter den Gefangenen?ANTWORT: Brüderlich. Das kann man gar nicht anders sagen. Alle waren wie ausgewechselt. Und wir Deutschen auf einmal auch keine Fritzen, keine Faschisten mehr. Da war ein großes Einvernehmen. Einmal hat einer gesagt: Hier sitzt ja das vereinte Europa. Dazu kam das schöne, warme Wetter. Wissen Sie, im Sommer hat ja die Tundra durchaus ihre Reize. Unser Schacht beispielsweise lag auf einer Anhöhe, da schaute man auf andere Industrieanlagen runter, aber auch kilometerweit in die Natur. Alle möglichen Schattierungen von Grün, besonders unter der Mitternachtssonne. Auch solche Momente gab’s, die einen anrührten.
FRAGE: Womit haben Sie die Tage zugebracht, die der Streik dauerte?ANTWORT: Vor allem haben wir uns ausgeruht, das war auch bitter nötig. Und dann knüpfte man viele Kontakte, lernte Leute kennen, tauschte sich aus, über Kunst, über Literatur. Das war wie Kurfürstendamm im Mai, wenn alles sprießt.
FRAGE: Haben Sie eigentlich geglaubt, dass das Ganze irgendwie gut enden könnte?ANTWORT: Angst hatten wir jedenfalls keine. Einmal bin ich dazugekommen, als ein ukrainischer Häftling einer Gruppe Aufseher mit volltönender Stimme, wie im Theater, die Leviten gelesen hat: „Wissen Sie überhaupt, was für einem System Sie dienen? Unter jeder Eisenbahnschwelle von Kotlas bis Workuta liegen die Gebeine von Häftlingen. Was ist das für ein Land, das Menschen versklavt? An Ihren Händen klebt Blut!“ Das war dermaßen kühn, dass der stellvertretende Lagerkommandant tatsächlich für einen Moment auf seine Hände geschaut hat. Es wurde ein Streikkomitee gebildet, das ein Manifest an die Partei gerichtet hat. Uns war klar, dass es eine Lösung nur gemeinsam mit der sowjetischen Seite geben kann. Wir Deutschen gehörten dem Streikkomitee nicht an, wir hielten uns zurück, trugen aber die Forderungen mit. So hatten wir es beschlossen. Einer von uns traute dem Frieden nicht: „Kinders, macht Euch keine Illusionen“, hat er gesagt. „Keine Diktatur lässt sich gefallen, was hier passiert. Wir müssen darauf gefasst sein, dass es Tote gibt.“ Aber er war ein Naturpessimist, und wir haben manchmal lieber die Augen vor den Realitäten verschlossen. Vieles war natürlich Wunschvorstellung. Die Ukrainer haben aus Bettlaken „Freiheit ist das Brot des Lebens“ auf die Dächer geschrieben. Man nahm an, dass die Amerikaner das aus großer Höhe sehen könnten.
FRAGE: Und die Delegation aus Moskau?ANTWORT: Traf, wenn ich mich recht erinnere, am 30. Juli ein. Mit dem stellvertretenden Innenminister Maslennikow, der sich 1954 erschossen hat, an der Spitze. Ein untersetzter Mann, marschierte der Armeegeneral ins Lager, ordensgeschmückt und von einem Kometenschwarm Offizieren begleitet. Er sprach uns mit „Bürger“ an und fragte nach unserem Begehr. Wir wollten ihn auf keinen Fall provozieren und Schuld sein, dass die Gespräche scheitern. Also waren wir auf dem Appellplatz infanteriemäßig in Dreierreihen angetreten. Maslennikow lehnte als erstes ab, sich unsere Resolution vorlesen zu lassen. Wir hätten nur Bitten vorzubringen, keine Forderungen, alles andere würde als Meuterei bewertet. Da wurden die ersten Zwischenrufe laut. Es hieß, man berate die Häftlingsproblematik gerade neu, in Bälde könnten wir mit Verbesserungen rechnen. Wieder Zwischenrufe: Es geht nicht um Verbesserungen, es geht um Gerechtigkeit. Ein Häftling, ehemaliger Kapitän der Sowjetarmee, meldete sich zu Wort. Er sei mit seinen Leuten an der Front eingekesselt gewesen, sie hätten bis zur letzten Patrone gekämpft. Als die Lage aussichtslos geworden sei, habe er sich mit dem Rest ergeben. Das war gegen den Befehl, und dafür ist er ins Lager gewandert. Der General, der die Truppen befehligt habe, sei damals ausgeflogen worden. „Dieser General waren Sie.“ Maslennikow lief rot an wie ein Krebs, brüllte und tobte. Dann ist er aus dem Lager gestapft und soll zu seinem Stab gesagt haben: Klare Sache!
FRAGE: Am 1. August wurde der Aufstand niedergeschlagen.ANTWORT: Früh um zehn ging es wie ein Lauffeuer durchs Lager: Kommt alle zum Tor, die wollen uns ausräuchern. Hinterm Stacheldraht zielten Schützen auf uns. Über Lautsprecher wurden wir zum Aufgeben aufgefordert. Da fingen die Ukrainer zu singen an, und wir hakten uns unter. Als nächstes ließ man die Barackenaufseher rein, kreidebleich waren die und haben uns dazu bewegen wollen, Schluss zu machen. Dann öffnete sich das Tor, und ein Feuerwehrschlauch kam zu Vorschein – doch mit dem Wasser funktionierte es nicht. Gelächter! Wieder schlossen sie das Tor, und als sie es aufmachten, sprang ein Häftling vor und wollte es zuhalten. Auf einmal fiel er hin. Die fingen an, auf uns zu schießen! Ich stand da wie verdattert und spürte plötzlich einen fürchterlichen Schlag. Ich war getroffen worden, aber wo? Weitere Salven zischten vorbei, dann haben sie uns raus in die Tundra getrieben. Dort bin ich zusammengebrochen.
FRAGE: Aus anderen Erzählungen weiß man, dass die Häftlinge einzeln wieder ins Lager zurücklaufen mussten. Vorm Eingang wurden die Streikaktivisten mit Hilfe von Spitzeln und Politkommissaren aussortiert und abtransportiert. Am selben Abend hat das Lager die Arbeit wieder aufgenommen. Was war mit Ihnen?ANTWORT: Ich hatte einen Schuss schräg durch den Hals abbekommen, aber dabei wirklich drei Schutzengel gehabt. Es war „nur“ die äußere Arterie gerissen. Über zwei Liter Blut habe ich verloren, bin von Sanitätern auf die Krankenstation gebracht worden. Die Ärzte da, Häftlinge wie wir, waren sehr gut. Ein Dr. Bondarenko aus Kiew hat mich unter lokaler Betäubung operiert. Auf Anweisung der Politoffiziere musste man mich am 30. September wieder schachttauglich schreiben. Aber ich konnte noch 1954 wegen diverser Spätfolgen kaum arbeiten. Die Kameraden haben mich betüttelt, als sei ich aus dem Jenseits zurückgekehrt.
FRAGE: Viele sind nicht zurückgekehrt ...ANTWORT: Ja, es hat 64 Tote gegeben. Es kursieren auch andere Zahlen, aber in der Buchhaltung arbeitete damals ein jüdischer Häftling namens Goldscheidt, der heute 95-jährig in Israel lebt und zu dem ich immer noch Verbindung halte. Er hat 64 Holzkisten in Auftrag gegeben. Die Opfer wurden ja in Särgen beerdigt.
FRAGE: Wie verhielt es sich mit den Streikenden anderswo in Workuta?ANTWORT: Die waren, was wir nicht wussten, längst eingeknickt. Sie hatten das Risiko, zusammengeschossen zu werden, nicht eingehen wollen. Deshalb gab es auch nur bei uns dieses enorme Blutbad.
FRAGE: Das Lagerleben ging weiter wie zuvor?ANTWORT: Es liberalisierte sich. Ob das allerdings eine Konsequenz unseres Aufstands war, ist schwer zu sagen. Er hat sicher Weichen gestellt, aber die Neuerungen folgten wohl eher der allgemeinen Umorientierung in der Innenpolitik. Endlich durften wir nach Hause schreiben, ohne allerdings zu verraten, wo wir sind. Post bekamen wir über eine Sammelstelle. Es setzte dann auch eine Schwemme von Paketen aus dem Westen ein. Häftlingsnummern mussten wir keine mehr tragen und konnten uns die Haare stehen lassen. Die Baracken wurden nachts nicht mehr verschlossen und die Gitter von den Fenstern entfernt. Ab 1954 durften wir uns Bücher bestellen. Es wurden englische und amerikanische Filme gezeigt, Fußballspiele gegen andere Lager organisiert. Im Lebensmittelladen verbesserte sich das Angebot und überhaupt die Ernährung im Lager. Wir sahen bald gesünder aus, fühlten uns körperlich wieder wie Menschen. Und guckten sogar schon mal den Mädchenröcken hinterher.
FRAGE: Wann war klar, dass Sie nach Hause dürfen?ANTWORT: Am 15. März 1955 habe ich in einer Gruppe von 50, 60 Mann Workuta verlassen. Mit welchem Ziel, wussten wir nicht. Im Gefängnis von Kirow saßen wir fünf Wochen fest, dann ging es weiter nach Swerdlowsk, nach Nowosibirsk. Die Stimmung wurde immer mieser, es kursierte sogar die Theorie: Die lassen die Zeugen des Massakers verschwinden. Aber offiziell hat man diese Route mit einem „Transportfehler“ erklärt und uns wieder neu verladen, zurück nach Swerdlowsk. Wir kamen mit deutschen Kriegsgefangenen zusammen, die seit mehr als zehn Jahren abgeschnitten waren von allem und keine Ahnung hatten, was nach 1945 in der Welt vor sich gegangen war. Mit denen haben wir regelrecht Geschichte geübt. Dann das Fußball-Länderspiel Sowjetunion-Deutschland in Moskau: Wir wurden in einen Saal mit Radio geführt und hörten erstmals wieder die deutsche Nationalhymne. Da habe ich alte Soldaten dermaßen weinen sehen, das hat mich wirklich ergriffen.
FRAGE: Noch immer hieß es aber warten.ANTWORT: Wir waren auf Baustellen eingesetzt. Wenn wir auf dem Lkw zur Arbeit rausgefahren sind, haben uns die Kinder zugerufen: „Onkel Kriegsverbrecher, gib uns eine Zigarettenschachtel!“ Am 10. Juli wurden die Verhandlungen zur Rückführung der deutschen Gefangenen bekannt. Man konnte sich melden, ob man nach Ost- oder Westdeutschland wollte. Ich habe gesagt: In ein Land, wo man mich unschuldig verurteilt hat, gehe ich nicht zurück. Am 6. Oktober 1955 war’s soweit: Man setzte uns in Güterwagons mit Toiletten und Strohsäcken, sauber und zivilisierter als sonst. Wir haben den Obelisken zwischen Asien und Europa passiert und auf der Brücke nach Brest, die Sowjetunion hinter uns, wie die Irren gebrüllt, der ganze Zug. In Polen sind wir herzlich empfangen worden. Für uns ein Zeichen, wie sehr uns diese braune Pest doch das Gehirn vernebelt hatte.
FRAGE: Eine letzte Frage: Bedauern Sie sich oft dafür, dass man Sie um vier Lebensjahre in Freiheit beraubt hat?ANTWORT: Überhaupt nicht. Das war eben so. Und ich bin ja einigermaßen glimpflich davongekommen. Meinen Horizont konnte ich auf jeden Fall auch erweitern. Von russischen Mithäftlingen habe ich damals gehört: Du gehst hier auf die Universität des Lebens! Da liegt eine tiefe Wahrheit drin.ENDEZur Person:Heini Fritsche wurde 1929 in Leipzig geboren. Von Mutter und Großvater sozialdemokratisch geprägt, eckte er bereits als Oberschüler im sächsischen Grimma häufig an, diskutierte offen gegen die Vereinigung von KPD und SPD. Einem Studium in der sowjetischen Besatzungszone stand – trotz Abiturs – seine „bürgerliche Herkunft“ entgegen. Er trat stattdessen 1949 in die Volkspolizei ein, um sich einen Jugendtraum zu erfüllen. Der Opa hatte seine Vorbehalte entkräftet: „Du wolltest doch immer Kriminalbeamter werden!“ Voraussetzung waren sechs Jahre Polizeidienst in Uniform. Die Laufbahn wurde aber schon nach kurzer Zeit durch die Verhaftung beendet. Auch der Großvater („Anstifter“) und die Verlobte („Mitwisser“) landeten im Zuchthaus.Zur Kripo kam Fritsche dennoch. Von der Lagerhaft amnestiert, ließ er sich in Westdeutschland nieder und wurde nach einiger Zeit tatsächlich Kriminalbeamter, wobei großzügig darüber hinweggesehen wurde, dass er, seit Workuta gesundheitlich angeschlagen, durch die medizinische Eignungsprüfung fiel. Nach 30 Arbeitsjahren 1989 pensioniert, lebt Fritsche heute mit seiner Frau in Bonn und hat seit der Wende eine neue kriminalistische Aufgabe: Damit ehemaligen deutschen Häftlingen die Rehabilitationsbescheide der russischen Behörden zugestellt werden können, macht er sie oder ihre Angehörigen ausfindig. Für dieses Engagement um unschuldig verurteilte Menschen erhielt Heini Fritsche 2003 das Bundesverdienstkreuz.
Ende


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