Kuscheltiere im Alkoholregal
Die trinkfreudigen Russen müssen sich seit 1. Juli einschränkenMoskau (n-ost) – Der niedliche Plüschaffe ist in eine seltsame Welt geraten. Er hockt im Alkoholregal eines kleinen Supermarktes in der Nähe des Kiewer Bahnhofs in Moskau und hat eine Flasche dagestanischen Kognaks im Arm. Um ihn herum fristen noch mehr Kuscheltiere ihre Tage zwischen Hochprozentigem, als hätten sie sich auf dem Weg zum Kinderzimmer fürchterlich verlaufen. Die kuriose Spielzeug-Offensive in der Spirituosen-Abteilung dauert nun schon mehrere Wochen und ist ein Ablenkungsmanöver – das die Leerstellen im Regal kaschieren soll. Außer diversen Sorten einheimischen Wodkas und Kognaks hat der Laden nur noch Martini sowie vereinzelte Flaschen russischen Weins und Sekts zu bieten.Ein typisches Bild dieser Tage in Russland und sogar im wohl situierten Moskau, wo sich die Menschen längst an eine ähnlich breite Auswahl alkoholischer Getränke wie im Westen gewöhnt hatten und für einen guten Tropfen auch bereit sind, etwas tiefer in die Tasche zu greifen. Doch dann kam der 1. Juli, an dem die bisherigen Steuerbanderolen ihre Gültigkeit verloren und die so markierten Flaschen nicht mehr verkauft werden durften. Die Geschäfte hatten sie mit Sonderpreisen loszuschlagen versucht und den Rest – Millionen Flaschen – an die Großhändler zurückgeschickt. Von denen erhielten sie im Gegenzug kaum Nachschub, weil die neuen Steueraufkleber nicht rechtzeitig in Druck gegangen waren. Sie reichten zunächst nur für ein sehr begrenztes Sortiment einheimischen Alkohols, darunter für Wodka, der den Kunden am allerwenigsten vorenthalten werden konnte. Die Auslagen lichteten sich von einem Tag auf den anderen, besonders zu Lasten von Importprodukten, deren Ummarkierung nach Veröffentlichungen in der russischen Presse noch Monate in Anspruch nehmen kann.Mit der „staatlichen Regulierung“ zum 1. Juli wollen die Behörden ihre Kontrolle über den Markt verstärken und Alkoholschmuggel erschweren. Einstweilen haben die Maßnahmen vor allem dem legalen Markt zugesetzt, der gerade erst dabei war, sich vom Verbot georgischer und moldawischer Weine zu erholen, das Russland im Frühjahr offiziell aus „sanitären Gründen“ verhängt hatte. In den Medien wird den zuständigen Ministerien Dilettantismus vorgeworfen. Dass Schmiergeldforderungen auf den beteiligten Ebenen die Ausgabe der Steuermarken weiter verzögert haben, bezeichnen viele als wahrscheinlich. Das Massenblatt „Komsomolskaja Prawda“ fühlt sich angesichts des „guten alten Defizits“ an sowjetische Zeiten erinnert: „Als seien wir plötzlich wieder in jenem Land aufgewacht.“ Und weiter heißt es: „Wer jetzt Geburtstag, Hochzeit oder dergleichen feiert, hat wirklich Pech. Die Gläser mit Importwein zu füllen, erweist sich als schwierig.“ Eine Umfrage in Moskauer Restaurants ergab, dass auch dort von der Weinkarte nicht viel übrig geblieben ist. In einigen wird zurzeit gar kein Wein mehr ausgeschenkt, in manchen beschränkt sich die Auswahl auf einen roten und einen weißen Hauswein. In den Geschäften wurden die Lücken in den Regalen bevorzugt mit Bier, hier und da aber auch mit Kuscheltieren aufgefüllt. Die Lebensmittel-Kette „Ramstore“ äußerte sich auf Anfrage dieser Zeitung in einem schriftlichen Kommentar zu den weiteren Aussichten: „Nach unseren Prognosen wird der Juli durch ein merkliches Defizit an Importalkohol gekennzeichnet sein. Wir schließen gewisse Preissteigerungen nicht aus, mit denen die Großhändler ihre Verluste im Zuge der Ummarkierung zu kompensieren geneigt sein könnten. Wir glauben, dass sich die Situation nicht vor September normalisiert und das Sortiment an Importalkohol erst zum Jahresende in vollem Umfang wiederhergestellt sein wird.“ Auch könne es zu einer Marktbereinigung kommen, weil kleinere Händler durch die gegenwärtigen Schwierigkeiten zum Aufgeben gezwungen würden.
EndeTino Künzel