Weiblicher Oskar Schindler
Irena Sendler hat über 2500 jüdische Kinder aus dem Warschauer Ghetto gerettetWarschau (n-ost) – „Ich habe immer lieber geschenkt, als dass ich beschenkt wurde,“ sagt Irena Sendler, die 2500 Kinder aus dem Warschauer Ghetto rettete. Die 96-Jährige hat viele Leben geschenkt, und hätte dabei ihr eigenes fast verloren.Während die Geschichte des Industriellen Oskar Schindler in den neunziger Jahren durch Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ einem breiten Publikum bekannt wurde, blieb Sendler nahezu im Verborgenen. Nur wenige wussten, was sie geleistet hatte - bis vier Schülerinnen aus Kansas in den USA sich vornahmen, die Welt an die Polin zu erinnern. Die Jugendlichen waren 1999 bei der Vorbereitung für eine Geschichtsarbeit auf die mutige Frau und ihre Rettungsaktionen gestoßen und hatten ein acht Minuten langes Theaterstück über sie verfasst, das sie in der Schule aufführten. Medien wurden aufmerksam und schon bald wurde mehr bekannt über die beinahe vergessene Frau, die nie eine Heldin sein wollte. „Ich bitte euch herzlich, macht aus mir keine Heldin, denn das würde mich zu sehr aufregen“, schrieb Sendler den Schülerinnen in einem ihrer Briefe.Vergessene Heldin Irena Sendler, Foto:Longin WawrynkiewczDoch die Polin ist eine Heldin, vor allem für die 2500 jüdischen Kinder, die sie mit der Zegota, der Untergrundorganisation zur Hilfe für verfolgte Juden, aus dem Warschauer Ghetto schleuste und so vor dem Tod bewahrte. Und das obwohl auf Hilfe für Juden im von Deutschland besetzten Polen die Todesstrafe stand. „Irena hat nicht nur uns gerettet, sondern auch unsere Kinder und Enkel und alle Generationen, die nach uns kommen“, sagt Elzbieta Ficowska, die im Alter von sechs Monaten im Juli 1942 in einer Holzkiste in einem Wagen aus dem Ghetto geschmuggelt wurde. Die Nationalsozialisten deportierten ihre Eltern vermutlich nach Treblinka, wo sie wie die meisten der mehr als 380.000 Warschauer Juden ermordet wurden.Sendler - 1910 als Tochter eines katholischen Arztes in Warschau geboren - studierte polnische Literatur und Pädagogik. Die spätere Sozialarbeiterin erbte das christliche Engagement von ihrem Vater, wie sie in einem ihrer seltenen Interviews berichtete. „Er starb, als ich sieben Jahre alt war. Aber ich prägte mir für immer seine Worte ein, dass man Menschen in gute und schlechte einteilt. Nationalität, Rasse, Religion haben keine Bedeutung. Nur was für ein Mensch jemand ist. Der zweite Grundsatz, den man mir seit meiner Kindheit beibrachte, war die Pflicht, dem Ertrinkenden, der in Not geraten ist, die Hand hinzustrecken.“Sendlers Hilfe für die Juden war für sie deshalb „kein Heldentum, sondern nur ein Bedürfnis des Herzens.“ Zudem betont sie, dass sie nicht allein war, es seien bis zu 25 Menschen an den Rettungsaktionen beteiligt gewesen. Sendler besorgte Dienstausweise der Sanitätskolonne, zu deren Aufgabe es gehörte, ansteckende Krankheiten im Warschauer Ghetto zu bekämpfen. So konnte Sendler als eine der wenigen christlichen Polen in die Welt hinter Stacheldraht und Mauern gehen, in der Hunger, Krankheiten und Tod auf engstem Raum herrschten.Unter dem Decknamen „Jolanta“ knüpfte Sendler mit mindestens zehn anderen Frauen ein Untergrundnetzwerk im Ghetto. Sie nahmen Kontakt zu Familien auf. „Wir sagten, dass wir die Möglichkeit haben, Kinder zu retten und über die Mauer zu schmuggeln“, notierte Sendler nach dem Krieg in ihren Aufzeichnungen. „Aber auf die Frage, welche Garantien wir geben, konnten wir nur antworten, dass es keine Garantien gibt.“ Szenen wie aus Dantes „Inferno“ habe es gegeben, erinnert sie sich. Der Vater habe der Trennung vom Kind zugestimmt, die Mutter und Großmutter wollten „um nichts auf der Welt“ ihr Kind aufgeben. Die Schreie und Tränen der sich trennenden Mütter und Kinder verfolgen Sendler in Albträumen noch heute. Die Kinder wurden aus dem Ghetto geschmuggelt: Versteckt in Feuerwehrautos, Ambulanzen oder Straßen¬bahnen, zu Fuß durch ein Gerichtsgebäude, das zwei Eingänge hatte - einen auf der Ghettoseite und einen auf der „arischen“ Seite -, durch Keller sowie Abwässerkanäle. Mit gefälschten Papieren, die die Sozialarbeiterin dank hilfreicher Kontakte beschaffen konnte, gab sie den Kindern eine andere Identität und besorgte ihnen ein neues Zuhause in Waisenhäusern, Klöstern und Pflegefamilien.„Eigentlich habe ich drei Mütter, eine jüdische, die ich nie kennen gelernt habe, eine polnische, bei der ich groß geworden bin, und Irena, der ich mein Leben verdanke“, sagt Ficowska, das jüngste der geretteten Kinder. Sie ist heute die Vorsitzende der Vereinigung „Kinder des Holocaust“ in Polen, einem mittlerweile 800 Mitglieder zählenden Verein, der Anfang der neunziger Jahre gegründet wurde, damit sich die Überlebenden gegenseitig helfen können. Ficowska möchte die Erinnerung an Sendler wach halten, die heute eine ihrer engsten Freundinnen ist. „Leider geht es Irena nicht gut, sie ist aus ihrem Rollstuhl gefallen.“ Dass Sendler im Rollstuhl sitzt, ist eine Folge der Folter durch die Gestapo, nachdem sie 1943 verraten wurde. Trotz größter Qualen und der Verurteilung zum Tode verriet sie nicht das Versteck, in dem sie die verschlüsselte Liste mit den Namen der geretteten Kinder versteckt hatte. Kurz vor der Exekution ließ ein durch die Zegota bestochener SS-Mann sie laufen. Später vergrub Sendler das Papier in einer Flasche versteckt unter einem Baum. Diese Liste konnte vielen Kindern nach dem Krieg ihre wahre Identität wiedergeben.Sendler lebt heute in einem kleinen Zimmer des Pflegeheims des Klosters der Barmherzigen Brüder in der Warschauer Neustadt, wo sie täglich von ihrer Familie und Freunden umsorgt wird. Kontakt mit anderen Menschen wünscht sie nur noch selten, mit Journalisten gar nicht mehr. Viele von denen hätten „verdreht, was man ihnen erzählt.“ „Das ist es“, sagt Anna Mieszkowska und zeigt auf ein Foto, das Sendler, eine kleine, etwas gekrümmte Frau, im Sessel in ihrem Zimmer zeigt. Sie hat weiße Haare, die von einem schwarzen Haarreif zurückgehalten werden, und trägt ein schwarzes Kleid. „Hier habe ich Irena immer wieder besucht und mit ihr für das Buch gesprochen.“ Die Journalistin und Theaterwissenschaftlerin Mieszkowska hat die Lebensgeschichte der mutigen Frau erstmals aufgeschrieben. Sie ist im März dieses Jahres auch auf Deutsch unter dem Titel „Die Mutter der Holocaust-Kinder“ bei DVA erschienen. Das Buch, 2004 in Polen herausgegeben, kam zur richtigen Zeit. „Irena hat keine Kraft mehr, selbst immer wieder über die Geschehnisse zu sprechen“, sagt die Autorin. Deshalb musste Mieszkowska sehr behutsam vorgehen. Ihre Arbeit hat sich gelohnt: Entstanden ist ein leises, bewegendes Buch, das in Polen, so die Autorin, nur auf wenig Resonanz gestoßen ist, aber dafür umso mehr in Deutschland. Eine große Freude für Sendler.In Polen würdigte man die Sozialarbeiterin spät: 2003 erhielt die Polin die höchste polnische Auszeichnung, den Orden des Weißen Adlers für Tapferkeit und großen Mut. Bereits 1965 hatte sie Yad Vashem in Israel mit dem Titel „Gerechte unter den Völkern“ geehrt, zu einer Zeit, in der Sendlers Leistung im sozialistischen Polen kaum anerkannt wurde.Die Polin versuchte ein normales Familienleben zu führen, aber sie galt in ihrem Land als „Judenhelferin“ und bekam den Antisemitismus der neuen Machthaber zu spüren. Als sie schwanger war, wurde sie verhört und erlitt eine Fehlgeburt. Deshalb war das Engagement der Schülerinnen aus den USA nach den Worten Sendlers eine Wiederentdeckung „nach Jahren der Schikanen, Erniedrigungen und Verfolgungen“. Und für die Polin ein Geschenk – wie auch die Ehrung, die sie am 30. Juli 2006 auf dem 18. Weltkongress der Sozialarbeiter in München für ihren Mut und ihren Einsatz erhält. Entgegen nehmen wird sie Ficowska, die für ihre Freundin die Grußworte sprechen wird.Ende----------------------------------------------------------
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