Russland

Die Gefahr liegt unter dem Boden

„Die Gefahr liegt unter dem Boden“ Im Prothesenzentrum von Wladikawkas werden Minenopfer mit künstlichen Gliedmaßen versorgt und psychologisch betreut 
WLADIKAWKAS (n-ost) Für jeden Menschen, der heute noch in Tschetschenien lebt, hat der Krieg eine Mine hinterlassen. Abgeworfen aus russischen Bombern, die ihre tödliche Fracht über den Wipfeln tschetschenischer Berge und Wälder abluden, um die Bewegungsfreiheit der Partisanen einzuschränken. Agrarflächen, Dörfer und Städte sind auf diese Weise zum hochexplosiven Lebensraum geworden. Tschetschenische Kämpfer wiederum installierten Sprengfallen vor öffentlichen Gebäuden, in Autos und Straßenzügen. Die Spielplätze der kaukasischen Republik gehören inzwischen zu den gefährlichsten der Welt. Rund 10 000 Kinder sind Opfer von Minen, Bomben und deren intakten Überresten geworden. „Monatlich werden etwa 50 Menschen in Tschetschenien durch Detonationen zu Invaliden“, berichtet Vera Wikalina, Ärztin im nord-ossetischen Prothesenzentrum in Wladikawkaz. „Die Versorgung in Tschetschenien ist bei weitem nicht so gut wie hier. Es fehlt noch immer an der notwendigen Infrastruktur. Die Republik ist zerstört. Ein Krankenwagen braucht zu lange, um zum Einsatzort zu gelangen. Viele sterben deshalb. Obendrein sind Medikamente knapp.“ In Grosny existierte zwischenzeitlich eine Prothesenklinik, das habe den Zustrom der Menschen in Wladikawkas gedämpft, aber die Betroffenen wüssten, dass die medizinischen Möglichkeiten in der nordossetischen Gebietshauptstadt besser seien. „Während des Kriegs und kurz danach sind Invaliden zu uns gekommen, die in tschetschenischen Feldlagern in aller Eile operiert wurden“, fährt die Ärztin fort. „Die amputierten Stellen waren deshalb nicht prothesenfähig. Die meisten mussten nachoperiert werden, damit die Prothese angebracht werden konnte.“ 1948 öffnete das nordossetische Prothesenzentrum in Waldikawkas seine Türen. Seit 1998 arbeitet die  Klinik mit der UNICEF und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zusammen, die die Kosten für die Prothesen jedes einzelnen Patienten übernimmt. Ein herkömmlicher Ersatz für ein fehlendes Bein kostet rund 3 000 Euro. Das ist so gut wie für alle Menschen in der kaukasischen Republik unbezahlbar. Zumal bei Erwachsenen alle zwei  bis drei Jahre die künstlichen Gliedmaßen wegen Verschleißerscheinungen gewechselt werden müssen, bei Kindern auf Grund ihres Wachstums sogar jährlich. Die meisten Minen-Unfälle geschehen beim Pilze oder Holz sammeln. Die Felder seien in Tschetschenien eigentlich nicht zu bewirtschaften, denn die Gefahr lauere unter dem Boden, erzählt Wikalina. So genannte „Booby Traps“, scheinbar harmlose Gegenstände mit hoch explosivem Inhalt, verleiten Kinder, mit ihnen zu spielen. Lew Larijew verlor seine Beine in Tschetschenien - jetzt bekommt er künstliche im Prothesenzentrum von Wladikawkas. Foto: Daniela Haussmann 2006 Invaliden, die den Weg ins Prothesenzentrum finden, erhalten eine sozial-psychologische Begleitung. „Hauptsächlich Kinder leiden stark unter den traumatischen Auswirkungen der Erlebnisse“, erzählt Vera Wikalina. „Hinzu kommt, dass Behinderte von der Gesellschaft ausgegrenzt werden, gerade wenn es sich um eine offensichtliche Körperstelle handelt, wie beispielsweise die Hände. Für Kinder keine leichte Erfahrung.“ Deshalb verwenden die Fachärztin und ihre Kollegen nur Silikonprothesen, die dem jeweiligen Hauttyp des Trägers angepasst werden. Seit fünf Jahren sind derartige medizinisch-technische Hilfen auf dem Markt und sofort von den Ärzten in Wladikawkas eingesetzt worden. „Mit etwas anderem arbeiten wir im Bereich der Hände nicht mehr. Das Silikon hilft, einen Teil des sozial bedingten Drucks, der auf den Schultern dieser Kriegsversehrten lastet, zu minimieren“, begründet die Fachärztin den ausschließlichen Einsatz dieser Prothesen. „Bei Heranwachsenden, deren Prothese jährlich neu angepasst werden muss, macht den Umstand der Behinderung für sie ohnehin nicht einfacher.“ Marina Zegojewa hat am 19. März 1999 bei einem Bombenanschlag auf einen Lebensmittelmarkt in Wladikawkas ihr Bein verloren. Diesen Tag wird die 13-Jährige nie vergessen. Die Bilder jenes Moments, in dem ihr Vater neben ihr tot auf dem Boden lag, begleiten sie seitdem. „Mit ihren sechs Jahren war sie das jüngste Opfer jener Tragödie, die 52 Menschen das Leben kostete“, wie ihre Mutter Julia erzählt, während sie sich die Tränen von den Wangen wischt. „Leicht hatte sie es nicht. Von den Mitschülern wurde sie gehänselt. Sie ging nicht gerne zur Schule und zog sich immer mehr in sich zurück.“ Umringt von Schwestern und Pflegern, hangelt das Mädchen ein eisernes Geländer entlang. Gehübungen mit der neuen Prothese. „Früher mussten wir alle sechs Monate für drei Tage hierher kommen. Jetzt genügt es einmal im Jahr“, fährt Marinas Mutter fort, die gesteht, bis heute nicht über diesen Vorfall hinweg zu sein. „Die Angst bleibt, denn die Gewalt ist überall. Es kann jederzeit wieder passieren.“ Seit 1995 zieht sich die von russischen Sicherheitskräften als „tschetschenische Spur“ bezeichnete Aneinanderreihung von Terroranschlägen nicht allein durch Kaukasien. „Doch hier ist der psychologische Druck am größten. Die Nachbarrepubliken Tschetschenien und Inguschetien liegen nicht weit entfernt“, wie Psychologin Raisa Dudarowa erklärt. Täglich rechnen die Menschen mit neuen Angriffen aus dem Nichts heraus, denn längst hat der Konflikt zwischen Moskau und Tschetschenien seine Entgrenzung gefunden. Dörfer, Städte, Autos, Züge und Schulen wurden zum Ziel einer Politik, deren Worte verstummt sind und die ihre Fortsetzung in den Minen und Sprengfallen findet, die der Krieg hinterlassen hat. Durch die psychologische Unterstützung, die das Prothesenzentrum anbietet, ist es Marina und ihrer Mutter gelungen, sich mit ihrer Behinderung und der Tragödie auseinander zu setzen. In Theateraufführungen schlüpfen die Betroffenen in ihre eigene Rolle, um sich besser einfinden zu können, wie Vera Wikalina erklärt. „Marina hat gelernt, die Bilder der Explosion einzuordnen“, gewährt Julia mit leisen Worten Einblick in ihre Situation und die ihrer Tochter. „Sie ist nicht mehr so nervös. In den Nächten muss sie nicht mehr so viel weinen und sie versteckt sich nicht mit ihrer Behinderung.“Im Nebenzimmer werden Lew Larijew Abdrücke von seinen Beinstümpfen genommen, die er von der Liege herunterbaumeln lässt. „Bei einem Luftangriff der Russen wurden sie mir im zweiten Tschetschenienkrieg weggerissen“, erinnert sich der 56-Jährige an jenen Tag, der sein Leben veränderte. In Tschetschenien bekam er keine Gehhilfen, also machte er sich mit Hilfe von Freunden auf den Weg nach Waldikawkas. Von den Abdrücken werden Gipsformen angefertigt, um die künstlichen Gliedmaßen passgenau herzustellen. Ganze Beine werden auf diese Weise kopiert und die Prothesen mit Materialien aus dem Lager entsprechend zusammengestellt.  Etwa 11 000 Invaliden sind Wikalinas Schätzungen zufolge in dem Prothesenzentrum versorgt worden. Davon seien etwa 600 Kinder gewesen. Jetzt beliefen sich die Zahlen auf rund 400 Personen, die im Jahr eine medizinisch-technische Hilfe benötigen. Im Kaukasus ist die Klinik weithin bekannt. Immer wieder reisen die Ärzte nach Leipzig, Berlin und New York zu Kongressen, um auf dem neuesten Stand der Entwicklung zu sein. Noch müssen die Patienten in den kleinen Räumen der Werkstatt mit ihren neuen Prothesen üben. Eine abgeschlossene Trainingsmöglichkeit gibt es bislang nicht. Doch das wird sich spätestens mit dem Bau eines 400 Quadratmeter großen Rehabilitationszentrums ändern.
 
ENDE
 
Daniela Haußmann
 


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