Russland

Schlacht um russische Holzhäuser

Am Stadtrand von Moskau bauen Bürger Barrikaden, um den Abriss ihrer Häuser zu verhindernMoskau (n-ost) – Julia Prokofjewa guckte fassungslos, als Polizisten der OMON-Polizei-Sondereinheit anrückten. Mit brutaler Gewalt vertrieben sie die Anwohner, die sich vor dem Haus der alten Dame versammelt hatten, um eine Räumung zu verhindern. Frau Prokofjewa wehrt sich zusammen mit ihrem Sohn Igor und den Bewohnern der Siedlung Butowo, am südlichen Stadtrand von Moskau, gegen die von der Stadtverwaltung beschlossene und vom Gericht abgesegnete Räumung der Holzhaussiedlung. Seit Anfang Juni verweigern die Bewohner den Gerichtsvollziehern den Zutritt zu ihren Häusern. Die Stadtverwaltung will die grüne Siedlung schleifen, um mehrgeschossige Wohnhäuser zu bauen. Moskau platzt aus allen Nähten. Um Platz für neue Geschäftshäuser, Elitewohnungen und Luxushotels zu schaffen, werden Häuser in der Innenstadt – obwohl sie oft historischen und kulturellen Wert darstellen – abgerissen und die Bewohner an den Stadtrand umgesiedelt. Manchmal bricht vor einer geplanten Modernisierung auch ein Feuer aus, wie etwa bei der bekannten Ausstellungshalle Manege, sie liegt direkt am Kreml. Am Abend des 14. März 2004 - die Russen hatten gerade ihren Präsidenten gewählt - brannte die fast 200 Jahre alte, historisch äußerst wertvolle Halle lichterloh ab. Inzwischen ist das Gebäude wieder in Betrieb, jetzt voll modernisiert und mit Tiefgarage.Sturm der OMON-PolizistenIn Siedlung Butowo spitzt sich der Konflikt unter reger Anteilnahme des russischen Fernsehens immer weiter zu. Am Montag erscheinen die Gerichtsvollzieher in Begleitung von 150 Polizisten der OMON-Polizei-Sondereinheit. Doch die Bewohner hatten sich gut vorbereitet. Das Haus von Julia und Igor in der Bogutscharskaja-Straße Nr. 19 war mit Ikonen, russischen Flaggen und Strophen aus der russischen Nationalhymne behängt. In dem Haus hatte sich eine Gruppe älterer Damen verbarrikadiert. „Wir sind hier 12 Frauen“, schrie eine von ihnen durchs Fenster. „Allen geht es schlecht. Rettet uns!“, so die verzweifelten Rufe.Die Zeitung „Kommersant“ berichtete über den Polizeieinsatz. Um 16 Uhr war der Widerstand der Frauen gebrochen. Ein Arzt begleitete die Frauen an die frische Luft. Arbeiter trugen Möbel aus der Wohnung. Sohn Igor verbrachte die Nacht im Zeltlager. Am Dienstag weigerten sich aber die Arbeiter das Haus abzureißen. Nun will die Stadtverwaltung Soldaten zum Abriss einsetzen, wie die Internetzeitung newsru.com berichtet.Umstrittene EigentumsverhältnisseDie 1930 gebauten Holzhäuser von Butowo gehörten früher einer Kolchose. Die Bewohner haben den moorigen Boden urbar gemacht, Sand herbeigeschafft und Gärten angelegt. So einfach will man das Land nicht hergeben. Die Rechtslage ist günstig. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurden alle in einer Wohnung registrierten Bürger automatisch Eigentümer der Wohnung. Doch die Stadtverwaltung erklärt, die Häuser gehörten ihr. Ein Vertreter der Stadtverwaltung konnte am Dienstag aber nur Photokopien der entsprechenden Dokumente vorlegen. Der bekannte Moskauer Anwalt Anatoli Kutschera, der auch der von Putin geschaffenen neuen Bürgerkammer angehört, hielt die Photokopien vor die Fernsehkameras und sprach von „Zynismus höchsten Grades“. Natürlich müsse man die Gerichtsentscheidung zur Schleifung der Häuser akzeptieren, aber viele Dokumente über die Gerichtsentscheidung fehlten. Der ganze Vorgang müsse überprüft werden. Die Art und Weise wie die Stadt gegen die Menschen in Butowo vorgeht, ist eine Lehrstunde in russischer Demokratie. Die Richter, welche die Schleifung der Siedlung abgesegnet haben, stehen unter Kontrolle der Stadtverwaltung, erklärte der Duma-Abgeordnete Aleksandr Lebedew, der die Siedlung am Dienstag besuchte. Das ganze Vorgehen verstoße gegen die Verfassung. Explodierende WohnungspreiseJulia Prokofjewa fühlt sich wohl in ihrem Häuschen, umgeben von Büschen und Obstbäumen. Warum soll sie mit ihrem Sohn in eine Ein-Zimmer-Wohnung in einen mehrgeschossigen Plattenbau – wie von der Stadtverwaltung gefordert – umziehen? Zumindest unter den gegebenen Bedingungen ist sie dazu nicht bereit. Von der Stadtverwaltung bekam sie weder Dokumente noch einen Schlüssel für die neue Wohnung. Familie Prokofjew wandte sich ans Gericht. „Stellen sie sich vor, sie haben mein Haus auf 500 Dollar geschätzt“, berichtete sie Reportern. Frau Prokofjewa weiß, dass der Wohnungsmarkt in Moskau boomt und welche Preise gezahlt werden. Ein Quadratmeter kostet zurzeit 3.000 Dollar. Experten halten eine Steigerung auf 5.000 Dollar in absehbarer Zukunft nicht für ausgeschlossen. Warum also soll sie ein Haus gegen eine Ein-Zimmer-Wohnung tauschen?Der Pressesprecher des Moskauer Bürgermeisters, Sergej Zoj, beschuldigte die Protestierenden, sie wollten mit ihren Aktionen nur bessere Bedingungen bei der Umsiedlung durchsetzen. Anatoli Kutscharjon und andere Mitglieder der Bürgerkammer, warf Zoj vor, sie würden die Bewohner in Butowo aufwiegeln. Ende----------------------------------------------------------------------------------
Wenn Sie einen Artikel übernehmen oder neu in den n-ost-Verteiler aufgenommen werden möchten, genügt eine kurze E-Mail an n-ost@n-ost.org. Der Artikel wird sofort für Sie reserviert und für andere Medien aus Ihrem Verbreitungsgebiet gesperrt. Die Honorierung der Artikel und Fotos erfolgt nach den üblichen Sätzen Ihres Mediums. Das marktübliche Honorar überweisen Sie bitte mit Stichwortangabe des Artikelthemas an die individuelle Kontonummer des Autors:Ulrich Heyden
 
Zwei Belegexemplare bitte UNBEDINGT an die folgende Adresse:
n-ost
Schillerstraße 57
10627 Berlin


Weitere Artikel