Bulgarien

Öffnung der Stasiakten

Überall in der Stadt hängen sie: Plakate mit den Worten „Otvorete dosietata“ – Öffnet die Dossiers. Aufgehängt von einer der vielen Initiativen, die sich in den letzten Wochen gebildet haben, um freien Zugang zu den Archiven des früheren kommunistischen Staatsicherheitsorgans ‚Durjavna Sigurnost’ zu fordern. Dass die Diskussion um das Öffnen der Stasiakten ausgerechnet in der entscheidenden Phase vor dem EU-Beitritt aufflammt, mögen einige Politiker als unglücklich empfinden. Dabei gibt es zwischen beiden Themen einen engen Zusammenhang – sind von der EU-Kommission monierte Probleme doch eng mit der unbewältigten Vergangenheit des Landes verbunden.

Experten sind überzeugt, dass die ehemalige Staatssicherheit in kriminelle Aktivitäten wie Drogenhandel und Waffenschmuggel verwickelt ist. „Es ist wichtig, diese Kanäle offen zu legen, da sie wahrscheinlich die Grundlage der organisierten Kriminalität von heute bilden“, meint Vessela Tcherneva, Programmdirektorin des „Centre for Liberal Strategies“ in Sofia. „Es geht darum, die Strukturen der früheren Staatssicherheit zu erkennen und herauszufinden, bis zu welchem Grad sie heute noch funktionieren.“

Da diese Strukturen vermutlich den gesamten Staat durchziehen, ist die Öffnung der Archive von einiger Brisanz. Doch viele Bulgarinnen und Bulgaren sind mittlerweile überzeugt, dass dieser Schritt unumgänglich ist. Und nie war der öffentliche Druck so groß wie derzeit. Gergana Jouleva, Leiterin des „Access to Information Program“ (AIP): „Wir brauchen Zugang zu den Regierungsdokumenten – sowohl zu denen früherer Regierungen als auch der heutigen. Nur so können wir das eigene Misstrauen in die Regierung und ihre Institutionen überwinden.“

Das deutsch-bulgarische ‚Wirtschaftsblatt’ spricht sogar von einer notwendigen Katharsis, durch die die bulgarische Gesellschaft vor dem EU-Beitritt mit sich ins Reine kommen solle. Angestoßen wurde die Debatte Anfang Mai, als Innenminister Roumen Petkov auf Anfragen von Journalisten die Namen von einigen angeblichen Staatssicherheitsagenten enthüllte. In der Öffentlichkeit wurde diese Enthüllung als Skandal empfunden, weil es sich bei einigen der Personen um regierungskritische Journalisten handelte und die Enthüllung als Racheakt des Innenministers interpretiert wurde.

Verleumdungen und die Eliminierung politischer Feinde durch Anspielungen auf deren Vergangenheit gehören in Bulgarien seit langem zur politischen Praxis. „Es ist wichtig, dass die Dokumente endlich aus den Händen der Ministerien in das Staatsarchiv überführt werden“, fordert der Leiter des Rechtsteams von AIP, Alexander Kashumov. „Denn nur so kann verhindert werden, dass die Akten zum politischen Instrument gegen Oppositionelle und sonstige für die Regierung unliebsame Personen verwendet werden.“

Seit 2003 sind Ministerien und Institutionen verpflichtet, ihre als nicht mehr geheim eingestuften Dokumente öffentlich zu machen – doch dies geschah bislang so gut wie nicht. Außerdem hängt es derzeit noch von der Entscheidung des Innenministers ab, ob Akteneinsicht auf Anfrage gewährt wird.Die Regierung in Sofia wurde von dem Ausmaß der Proteste überrascht. Nachdem auch das Argument, die Öffnung der Akten würde zum jetzigen Zeitpunkt mehr schaden als nützen, den Protest nicht schwächen konnte, beschloss sie inzwischen tatsächlich die Öffnung der Archive.

„Das Maximum an Wahrheit“ über die Operationen der Geheimdienste solle nun enthüllt werden, so Premierminister Sergej Stanishev. Fraglich bleibt nur, wie vollständig diese Wahrheit tatsächlich sein kann. Denn angeblich sind bereits Anfang der 90er Jahre Teile der Archive verschwunden.

Auch die Mitarbeiter von AIP bleiben skeptisch. „Wir begrüßen die Entscheidung, doch wird es nun um die Umsetzung gehen. Es wäre nicht das erste Mal, dass es auf Seiten der Regierung nur bei großen Worten bliebe“, so Rechtsanwalt Alexander Kashumov. Auch für Gergana Jouleva ist mit der Regierungserklärung das Eisen noch nicht aus dem Feuer. „Unsere Erfahrung ist, dass die Initiative in solchen Dingen nie von der Regierung ausgeht. Es passiert allein etwas durch den Druck der Gesellschaft.“


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