Russland

Herr Müller lernt Russland kennen

Mit offenem Mund starrt Herr Müller der Bedienung im Sushi-Restaurant hinterher, die gerade die Speisekarte gebracht hat. »Uj, ich wusste gar nicht, dass es in Moskau japanische Gastarbeiter gibt«, sagt er zu Natascha. »Verdienen die denn nicht genug bei sich zu Hause?«

Natascha scheint eher in die bunten Bilder vertieft zu sein, die Algenröllchen mit Pilzen, Krabben, Aal und Co. abbilden. »Japaner?«, fragt sie geistesabwesend blickt sich verwirrt um. Herr Müller zeigt mit dem Kopf in Richtung Bedienung, die in einem orangefarbenen Kimono steckt. »Nein, das ist vermutlich eine Burjatin, also eine Frau aus Burjatien, würde ich sagen.«

Herr Müller grübelt. Burjatien? Ist das eine dieser zentralasiatischen Republiken, die auch mal zur Sowjetunion gehört haben? Er kann Natascha ja fragen, sobald sie sich für ein Gericht entschieden hat. Oder lieber gleich, sonst vergisst er den komplizierten Namen wieder. »Burjatien?« Natascha nickt. »Östlich des Baikalsees, ein Zentrum des Buddhismus in Russland!« Aha, sie meint doch nicht etwa die Mongolei oder eines der anderen Länder? Herr Müller wird sich nach der Mittagspause im Internet informieren.

Eine zweite Frau, ebenfalls mit asiatischen Gesichtszügen, räumt unterdessen am Nachbartisch Teller und Gläser auf ein Tablett. Das ist sicher keine Burjatin, sie sieht anders aus. »Warum kommen die denn alle nach Russland?«, fragt er. Natascha runzelt die Stirn. »Die leben doch schon ewig hier«, erklärt die Assistentin geduldig. »Bei ihr würde ich auf eine Koreanerin tippen, die habe ich in der Altaisteppe, also in Sibirien, öfter mal bei der Melonenernte gesehen«, erklärt Natascha. »Wir haben da jedes Jahr meine Großmutter besucht.«

Herr Müller kann sich nun überhaupt nicht mehr auf seine Bestellung konzentrieren. Melonen in Sibirien? Wassermelonen? Und Koreaner, die in Russland bei der Ernte mit anpacken? Sicher will ihn Natascha nur auf die Schippe nehmen, da sie gemerkt hat, wie wenig er über Russland und die ehemalige Sowjetunion weiß. In Sibirien gibt es doch nur Schnee! Und neulich, hat da Herr Kusnezow nicht einen dieser Partner aus Kalmückien angeschleppt? Der sah auch ziemlich asiatisch aus. Er muss nach der Mittagspause tatsächlich sofort im Internet surfen, damit seine Assistentin keinen Schabernack mehr mit ihm treiben kann.

Was ist diesmal schiefgelaufen?

Herr Müller kennt eigentlich nur Moskau, auch wenn er nun schon in der Provinz war. Um die ethnische Vielfalt in Russland zu erfahren, ist die Hauptstadt natürlich nicht das schlechteste Pflaster. Denn Moskau mit seinen vielen Karriere- und Verdienstmöglichkeiten zieht nicht nur Menschen aus ganz Russland, sondern auch aus allen Nachfolgerepubliken der Sowjetunion an. Überhaupt gilt Russland als eines der bedeutendsten Einwanderungsländer weltweit!

Russland ist ein facettenreicher Vielvölkerstaat: Mehr als 100 Völker und 130 Nationalitäten sind hier zu Hause. Wobei allerdings nur 30 Völker mehr als 500 Angehörige umfassen. Viele haben eigene Teilrepubliken – wie etwa die Tataren, die mit 5,5 Millionen Menschen als eines der größten Völker innerhalb Russlands gelten. Daneben gibt es drei Millionen Ukrainer. Tschetschenen, Baschkiren, Tschuwaschen und Armenier kommen ebenfalls auf über eine Million Angehörige in Russland.

Andere Völker besitzen autonome Provinzen oder Kreise, in deren Bezeichnung sie als Titularnation auftauchen. Dazu gehören die Nenzen, ein nordisches Volk, die im Nordural ihren Jamalo-Nenzischen Autonomen Kreis bekommen haben. Um niemanden zu diskriminieren, wurden sprachliche Finessen eingeführt: Ein Rossjanin ist ein Staatsbürger Russlands, der Russkij unterdessen ein ethnischer Russe. Und entsprechend heißt die offizielle Bezeichnung für den Staat Rossijskaja Federazija, wörtlich: »Russländische Föderation«. Im Deutschen hat sich jedoch die Bezeichnung »Russische Föderation« eingebürgert.

Die ethnische Vielfalt ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Denn nicht selten stößt man auf einen gewissen großrussischen Chauvinismus und übersteigerten Nationalstolz, bei dem andere Nationalitäten auch verbal degradiert werden: So nennt man die Ukrainer häufig herablassend Chochly, während Kaukasier als Tschjornyje (»Schwarze«) oder gar Tschornoschopye (»Schwarzärsche«) bezeichnet werden. Sie gelten oft als Bürger zweiter Klasse. Der großrussische Chauvinismus wurde zu Sowjetzeiten unter den Deckmantel der Brüderlichkeit und Völkerfreundschaft gekehrt und kam erst mit der Perestrojka an die Öffentlichkeit.

Viele Russen unterscheiden generell zwei Arten von Ausländern: Auf die einen schauen sie hinab, zu denen anderen hinauf. Zu ersteren gehören vor allem Menschen mit schwarzer, gelber oder anderer Hautfarbe und andersartigen Gesichtszügen. Die anderen sind die westlichen Ausländer, allen voran Europäer und Amerikaner, denen Respekt gebührt. Manchmal hört man auch die vermeintliche Überlegenheit gegenüber den kleinen Völkern im hohen Norden heraus, dann heißt es, dass diese ja »erst durch die Russen sesshaft geworden seien und eine Schrift bekommen hätten«.

Andererseits fällt es auch nicht allen Russen leicht zu akzeptieren, dass die Supermacht Sowjetunion zerbröckelt ist und die früheren Bruderrepubliken ihren eigenen Nationalstolz und eben ihre eigene Dynamik entwickeln. Letztlich sind mit dem Zerfall auch beliebte Urlaubsregionen wie die Krim oder das Baltikum über Nacht zum Ausland geworden – was viele Russen schmerzt.

Der großrussische Chauvinismus tritt manchmal auch in seiner Extremform auf: Als Fremdenhass und geballte Wut auf alles, was anders ist. So gibt es einige Städte, wie z. B. das zentralrussische Woronesch, in denen es schon wiederholt zu Angriffen auf afrikanische Studenten kam – sogar mit Todesfolge. 2009 wurden in Russland 71 Menschen durch rechtsradikal motivierte Übergriffe getötet und 333 Personen verletzt. Im Jahr zuvor wurden noch 110 Tote und 487 Verletzte verzeichnet.


Veronika Wengert:
Fettnäpfchenführer Russland – Was sucht der Hering unterm Pelzmantel?
288 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-934918-48-1
Erschienen im Conbook Verlag


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