Bulgarien

Fristgerechter EU-Beitritt auf der Kippe

Zinaida Veleva blättert in dem etliche hundert Seiten dicken Katalog vor ihr auf dem Tisch. Endlose Tabellenkolonnen, der „Aktionsplan“ der bulgarischen Regierung. „1100 Reformen sind hier aufgeführt“, sagt die Leiterin für Europäische Angelegenheiten im bulgarischen Ministerrat. „Jede Maßnahme hat ein genaues Datum, bis wann sie umgesetzt werden soll. Tag für Tag arbeiten wir nun alle nacheinander ab. 2005 haben wir unseren Aktionsplan zu 96 Prozent erfüllt.“

Spricht man mit Zinaida Veleva, dann erscheint die Sorge um den Reformfortschritt in Bulgarien vollkommen unbegründet. Doch in Brüssel mehren sich spätestens seit dem Zwischenbericht von EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn Anfang April Zweifel an der Beitrittsreife Bulgariens. Kernpunkt der Kritik ist das Justizsystem. Die Bekämpfung der organisierten Kriminalität und der Korruption fände praktisch nicht statt. Besorgniserregend seien die vielen Auftragsmorde auf offener Straße, denen kein Ermittlungsverfahren folgt. Allgemein fehle es an Transparenz und Effizienz. Ein interner EU-Bericht bezeichnet die im Gerichtswesen durchgeführten Reformen als „chaotisch“, Verfassungsänderungen wirkten „konfus“. Ernsthafte Bedenken an der Professionalität der Sicherheitsbehörden wurden geäußert und auch der Aufklärungswille sei in vielen Fällen nicht erkennbar.

Eine Kritik, die dafür sorgt, dass der endgültige Fortschrittsbericht der EU-Kommission, der am 16. Mai vorliegen soll, in Bulgarien nun mit zunehmender Nervosität erwartet wird. Denn dieser Bericht wird die Grundlage für die Entscheidung der EU sein, ob Rumänien und Bulgarien tatsächlich zum 1.1.2007 in die europäische Gemeinschaft aufgenommen werden. Als immer wahrscheinlicher wird in Brüssel ein Alternativszenario zum fristgerechten Beitritt gehandelt. Es könnten so genannte Schutzklauseln für die Landwirtschaft sowie für Justiz und Innenpolitik angewandt werden. Bulgarien wäre damit ein EU-Mitglied, aber mit eingeschränkten Rechten. Ein Aufschub um ein Jahr kommt immer weniger in Frage, da dafür die Zustimmung aller 25 Mitgliedsländer nötig wäre.

Die Reaktionen in Bulgarien sind defensiv. Premierminister Sergej Stanishev verteidigt gebetsmühlenartig den schon erreichten Reformfortschritt – vieles sei schon umgesetzt seit dem letzten umfassenden EU-Bericht im Oktober 2005. Er beklagt außerdem, die EU sei mit Bulgarien und Rumänien viel strenger als mit den Ländern der letzten Aufnahmerunde. Innenminister Roumen Petkov beschwerte sich über einen negativen Bericht des deutschen Experten Klaus Jansen, der die bulgarischen Sicherheitsorgane unter die Lupe genommen hat – allgemein herrscht die Meinung vor, dieser habe „Detailprobleme“ überbetont.

Doch gleichzeitig treiben die drohenden Sanktionen die bulgarischen Politiker zu erhöhter Aktivität an. Auch in den verbleibenden kritischen Bereichen werde man sich nun vermehrt anstrengen, betont Regierungssprecher Dimiter Tsanchev. „Für uns ist es jetzt wichtig, unseren politischen Willen zu beweisen und zu zeigen, dass wir dabei sind, unsere Reformen umzusetzen. Wenn dieser Reformprozess so weitergeht, dann werden auch die geforderten Ergebnisse folgen. Doch diese greifbaren Ergebnisse werden Zeit brauchen.“

Ein Rennen mit der Zeit? Oder doch mangelnder Reformwille, wie immer mehr EU-Vertreter befürchten? Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Diesen Schluss legt eine Studie des unabhängigen Open Society Institutes aus Sofia nahe. Die Autoren bestätigen einerseits in vielen Bereichen einen beachtlichen Fortschritt. Dennoch: was die Justiz angeht, sehen auch sie noch enorme Defizite. Assya Kavrakova, Programmleiterin des Open Society Instituts, betont, dass die umgesetzten Reformen nicht automatisch eine Verbesserung garantieren. „Wir fanden viele Maßnahmen nicht adäquat oder einfach nicht weitgehend genug. Dazu kommt, dass gerade einige der wichtigsten Reformen noch nicht umgesetzt wurden. Das heißt für uns, dass der Regierung offenbar der entscheidende politische Wille fehlt.“

Ein weiteres Problem sei die Kommunikation nach außen. Besonders das Innenministerium agiere sehr defensiv und gebe auch gegenüber EU-Experten keine Informationen heraus. Der Prozess der Öffnung finde langsam statt, so Assya Kavrakova. Es müsse sich noch einiges ändern in den Köpfen vieler Politiker und Beamter. „Da herrscht oft noch die Haltung: wer zur Hölle seid ihr, dass ihr Informationen darüber wollt, was wir tun?“

Das Urteil des Instituts lautet bei aller Kritik aber dennoch: Wenn das bisherige Reformtempo beibehalten wird, könne Bulgarien das Ziel bis 2007 noch erreichen – kein Grund also für Sanktionen. Unabhängig von der Entscheidung über den Beitritt steht für die Experten von Open Society Institute fest: Der Reformprozess wird auch nach dem 1.1.2007 weitergehen müssen. Dazu wird Bulgarien weiterhin internationalen Druck und Kontrollen brauchen. Ein Aufschub oder das Einsetzen der Schutzklauseln werden den Reformprozess in Bulgarien nicht beschleunigen. Es würde allein den antieuropäischen Kräften im Land und der organisierten Kriminalität nützen, ist Assya Kavrakova überzeugt. „Ich denke nicht, dass eine Bestrafung durch solche Sanktionen hier weiterhilft. Bulgarien kann die Kriminalität und Korruption besser bekämpfen, wenn es Teil einer größeren Gemeinschaft mit strengen Regeln ist.“

In Brüssel wird nun überlegt, die Entscheidung über den Beitritt noch bis zum Herbst aufzuschieben. Damit könnte die EU die Daumenschrauben noch ein wenig länger anziehen. Und Bulgarien hätte noch ein paar Monate länger Zeit, seinen Reformwillen tatsächlich unter Beweis zu stellen.


Weitere Artikel