Fremd in der Heimat
„Das Buch vom Fehlen“ von Marija Knezevic gleicht einem Röntgenbild, anhand dessen die Leser ihre eigene Diagnose über den Gesundheitszustand der serbischen „Postkriegsgesellschaft“ stellen können. Vor allem aber ist es ein Buch über die Einsamkeit der Intellektuellen in einem Land, das bis heute mit den Dämonen vergangener Kriege und politischer Entscheidungen ringt, die seine Souveränität und seinen Nationalstolz verletzten:
In der Pause meiner Reise durch das Zimmer rufe ich mir meine Freunde in Erinnerung, die in den letzten Jahren fast alle weggegangen sind, jeder auf irgendeine und kaum jemand auf seine Seite. Sie sind weggefahren, doch nicht um zurückzukommen (…) mit Fotoapparaten, Tauchermasken, Ski, Antibiotika und Pávlovic-Salbe. Diesmal nahmen sie ihre Diplome mit, ihre internationalen Führerscheine, Gesundheitszeugnisse, (…) Manuskripte, Disketten, Kassetten mit Musik aus den Siebzigern und diesen Seufzer, der in der Brust stecken geblieben war und noch lange Zeit nicht den Weg hinaus finden würde.
Emigrant ist nicht das richtige Wort
Wer Marija Knezevic besuchen will, muss mit der Straßenbahn fahren, die an verfallenden Bauten im Sezessionsstil vorbeirumpelt, an plan- und gesichtslos errichteten Geschäftshäusern. An glitzernden Geschäften und an Witwen, die auf den Gehwegen die Habseligkeiten ihrer verstorbenen Männer verkaufen. In einem grauen Gebäudekoloss aus den 60er Jahren führt ein großzügiges Treppenhaus nach oben. Umlaufende Balustraden, frisch gestrichene Türen. Die Wohnung der Autorin ist klein und still.
1989 erschien ihr erster Roman mit dem Titel „Hundefutter“. Ihm folgten ein zweiter Roman, sechs Lyrik- und einige Essay-Bände. Hier, in dieser Wohnung, entstand ihr „Buch vom Fehlen", in dem sie mit fast chirurgischer Präzision auch eine neue Spezies literarischer Exilanten beschreibt.
Sie sind auch mit jenen Sachen weggegangen, die sie in ihrer Verwirrtheit vergessen haben, zu welchen auch die Verabschiedung von einem Freund gehört. Das ist kein Wunder, weil wir ungefähr Dreißigjährigen (bis vor kurzem vom Wort „Generation“ angewidert) eigentlich überhaupt keine Erfahrung im Verabschieden besitzen. Diese Menschen mit der vergessenen Verabschiedung sind nicht, wie man früher zu sagen pflegte, emigriert. Das ist jetzt ein anachronistisches Wort. Sie sind in Züge und öfter Flugzeuge gestiegen noch bevor sie sich sicher werden konnten, ob sie irgendwer oder irgendwas aus dem Land gejagt hat. Sie wissen nur, dass Emigrant nicht das richtige Wort ist, können sich aber an ein anderes nicht erinnern.
Als die Schriftstellerin Marija Knezevic nach vielen Jahren im Ausland in ihre Heimatstadt Belgrad zurückkehrte, beschlich sie ein Gefühl der Fremdheit, das sie bis heute nicht verlassen hat. Es war so stark, dass es am Ende die Handlung eines ganzen Buches trug, dem sie den exemplarischen Titel „Das Buch vom Fehlen“ gab.
Fremd im eigenen Land
Marija Knezevic ist viel herumgekommen, hat in holländischen Hotels als Putzfrau gearbeitet, später in den USA als Dozentin für Literatur an der Michigan University. Dort habe sie sich zwar als Fremde gefühlt, nie aber als Emigrantin. Diese Erfahrung mache sie erst jetzt, in ihrer eigenen Heimat. „Man braucht große Mengen an Liebe, Geduld und so etwas wie angewandtem Zen, um das durchzustehen. Ich weiß nicht wie ich das erklären soll, vielleicht kann man Serbien mit einem Ei vergleichen, dessen kulturelle Hülle, die sein Innerstes schützt, jederzeit zerplatzen kann.“
Wer wissen möchte, was die Autorin meint, muss mit offenen Augen und Ohren die Stadt durchstreifen. Das Belgrad vor dem Bosnien-Krieg, vor der Ermordung des einstigen Hoffnungsträgers Zoran Djindic, vor der völkerrechtlich fragwürdigen Unabhängigkeit des Kosovo ist ein völlig anderes als das Belgrad von heute.
Das seien nicht nur zwei völlig unterschiedliche Orte, meint Maria Knezevic. Das seien zwei völlig verschiedene Planeten. „Es gibt sehr viel Grobheit im Umgang der Menschen miteinander. Es gibt zu wenige kluge Wörter, zu wenig Empathie und viel zu viel schlechten Geschmack. Normalerweise geht der Städter davon aus, dass er, wenn er aus dem Haus tritt, in eine urbane, also zivilisierte Umgebung kommt, mit klaren Umgangsformen, die sich als kulturelle Werte herausgebildet haben. Hier in Belgrad ist das nicht so. Man tritt aus dem Haus und fühlt eine Spannung als ob man einen Kriegsschauplatz betritt.“
Der „Montmatre von Begrad“
Nur ein paar Minuten sind es von Marija Knezevics Haus in die Skadarlija. In den „Montmartre von Belgrad“ zieht es fast nur noch Touristen. Und die merken von den Spannungen gar nichts. Doch auch das alte Bohéme-Viertel ist heute kaum mehr ein Schatten einstiger Belgrader Lebensart. Nur die alten Schelmenlieder, die aus den Kneipen dringen, atmen noch immer den Geist, der dem Land in der Zeit der Milosevic-Ära abhanden gekommenen Dichter und Maler.
Es sind eher die kleinen Stadtteilmärkte mit ihren dicht gedrängten Leibern, dem Geruch nach Schweiß, Selbstgebranntem und sauren Säften, die im Streit und im Feilschen den neuen Geist der Stadt offenbaren: Von den 1,7 Millionen Einwohnern Belgrads sind heute mehr als 300.000 Kriegsflüchtlinge aus ländlichen Gebieten: aus der kroatischen Krajna, Slawonien, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo. Menschen, von denen viele angesichts eigener Erfahrungen mit Vertreibung und Gewalt anfällig sind für nationalistische Parolen populistischer Politiker. Mit ihnen änderten sich die Sprache, der Ton und die Umgangsformen in der serbischen Hauptstadt. Bücher besitzen für den Großteil dieser Belgrader Neubürger kaum eine Bedeutung.
Und so sehen sich viele Autoren immer mehr in eine Subszene gedrängt, die nach dem kalten Zigarettenrauch kleiner Klubs riecht und dem Staub alter Buchhandlungen in verlassenen Seitenstraßen.
Filip David und die „Gruppe 99“
„Es ist eine paradoxe Situation. Die besten serbischen Autoren sind im freiwilligen Exil. Und niemand lädt sie ein zurückzukehren. Und die Intellektuellen, die hier geblieben sind, genießen nicht mehr das Ansehen, das sie vor und auch während der Milosevic-Ära hatten.“ Mit diesen knappen Worten umreißt der Schriftsteller Filip David auch seine eigene Situation.
Drei Bände mit Erzählungen, ein fantastischer Roman und zahlreiche Essays hatten den Mann mit dem schlohweißen Haar unter der Schiebermütze zu einem der führenden Intellektuellen des Landes gemacht. David verabredet sich mit Freunden gern im bahnhofshallengroßen Kaffeehaus im Erdgeschoss des Hotels „Moskwa“, das seit mehr als 100 Jahren an der Flaniermeile Terasije steht. Mit seiner Porzellanfassade, dem grünen Dach und den koketten Türmchen wirkt es wie die überdimensionale Kopie der in seinem Inneren angebotenen Törtchen. Filip David erinnert das Kaffeehaus aber vor allem an seine Kindheit:
„Belgrad ist für mich alles. Das ist der Ort, an dem ich geboren bin. Es ist der Ort meiner Liebe und meines Schmerzes. Ich bin jetzt in einem Alter, in dem ich zu rekapitulieren beginne, was eigentlich alles geschehen ist.“ Unter Milosevic verlor Filip David seinen Job als Leiter der Abteilung Drama beim serbischen Fernsehen. Vor zehn Jahren gründete er mit Gleichgesinnten die „Gruppe 99“. Mit ihr versucht er nun, die während der Kriege abgerissenen Kontakte zwischen den Autoren des ehemaligen Jugoslawien neu zu knüpfen.
Gesellschaftliche Verantwortung
Der Gruppe geht es aber auch darum, die Verantwortung der Intellektuellen für die jüngste Vergangenheit zu beleuchten. Als Mahnung und als Warnung für jene, die immer noch glauben, Literatur hätte keinen Einfluss darauf, wohin sich eine Gesellschaft entwickelt. „Für das, was in Jugoslawien, in Serbien geschehen ist, tragen auch die Schriftsteller eine Verantwortung“, ist Davids Fazit.
„In den Medien wurde damals lauthals geschrien, dass Serbien bedroht sei. Das überall, wo serbische Gräber sind, Serbien sei. In den Buchhandlungen tauchten plötzlich historische Romane auf, in denen die Geschichte einfach umgeschrieben, gefälscht wurde. Die Medien und die Literatur bereiteten den Boden für all das, was später geschehen ist.“ Und die Folgen, so resümiert Filip David bitter, bestimmen bis heute das literarische Leben im Land und haben deutliche Spuren auf dem Buchmarkt hinterlassen. „Natürlich“, sagt er, „gibt es inzwischen eine Demokratisierung des Buchmarktes. Die Frage ist nur, wie das aussieht. Große Zeitungsverlage überschwemmen den Buchmarkt mit Büchern aus billigem Papier. Mit kitschigen Liebesromanen, ein paar alten Klassikern, für die sie keine Rechte mehr zahlen müssen. Das Schlimmste aber ist eine andere Sorte von Büchern, die die eigentlichen Bestseller sind. Das sind die Memoiren von Kriminellen und Kriegsverbrechern.“
Das Chaos in den Köpfen der Menschen
Vor den Fenstern des Kaffeehauses tragen stolze Frauen Markentaschen auf und ab. Sonnenbebrillte Machos telefonieren. Die Goldkettchen blinken in der Abendsonne. Ein Geländewagen rangiert so lange in eine Parklücke, bis ihn auch der letzte Fußgänger bemerkt hat. Und die Sirenen der Polizei jagen mit Sicherheit nicht die Memoiren-Schreiber.
Marko Vidojkovic stemmt sich gegen den anschwellenden Strom des Feierabendverkehrs. Er steuert einen der bunten Kioske an, die zu Tausenden die Gehwege Belgrads säumen. In manchem findet er die Bücher mit den Konterfeis des inzwischen ausgelieferten Kriegsverbrechers Radovan Karadzic oder des Schlächters von Srebrenica, Radko Mladic. In trauter Nachbarschaft von Sex-Postillen und Zeitschriftenkopien westlicher Großverlage liegen sie vor den Verkäufern, die für ein paar Dinar am Tag die Kioske für deren Besitzer hüten. Diese Kioske, meint Marko Vidojkovic, seien das Abbild des Chaos, das die Milosevic-Zeit in den Köpfen vieler Menschen hinterlassen habe.
Heldenmythos-Biografien statt Literatur
„Diese Biografien, die hier liegen, haben nichts mit Literatur, sondern eben nur mit Schund zu tun. Nehmen wir 'Legija'. Der schreibt fünf Bücher pro Jahr, obwohl er im Gefängnis sitzt. Und die Leute kaufen es, weil er der Mörder des ehemaligen Premiers Zoran Djindic ist. Also da geht es nicht um das Buch, sondern darum, wer das Buch geschrieben hat. Daran kann man sehen, wie sehr solche Kriminelle nach wie vor das Unterbewusstsein unseres Landes beherrschen. Hier kriegen Sie auch die Bücher von es Ex-General Ratko Mladic, der sich ja angeblich so versteckt hält, dass man ihn nicht finden kann. Als ob die Manuskripte per Post und anonym zum Verlag kommen.“
Marko Vidojkovic schreibt selbst für eine der Zeitschriften, die in den Kiosken mit barbusigen Schönheiten für sich wirbt. Die serbische Ausgabe des „Playboy“ leistet sich mit ihm einen Kolumnisten, der, obwohl längst Star der alternativen Literaturszene, noch immer als „underground“ gilt. Einer, der sich nicht vereinnahmen lässt, einer, der noch immer den Punk in sich hat. Begründet hat er seinen Ruf mit dem auch im deutschen Horlemann-Verlag erschienenen Buch Tanz der kleinen Dämonen“. Geschrieben hat er es mit 17 Jahren. Heute ist er 36.
Marko Vidojkovic und sein Roman „Tanz der kleinen Dämonen“
Wir saßen da und zogen uns eine Sendung von irgendeinem Idioten …rein …der unglaublich schnell herumflitzte und Verbrechen löste. Er war arschschnell. Nach der Serie hatten wir es mit der Politik. Irgendwo im Lande tobte ein Krieg und mein Vater erklärte mir warum. Er erzählte, dass die einen wie die anderen Idioten seien … und das in zehn Jahren alle, die sich jetzt bekämpften wieder zusammenleben müssten, wenn Europa ihnen die Ohren lang gezogen habe. …. Ich teilte seine Meinung vor allem deshalb, weil sie ganz anders als die offizielle Meinung war. Mein Alter war in dieser Hinsicht ein absoluter Punk. …. Insgeheim war ich für die Serben und wünschte mir, dass sie das Land der Ustascha in Brand setzen würden. Aber ich wusste, dass das falsch war, weil das ganze Land dafür war und mein Land und die Menschen in ihm waren ekelhaft … und so befasste ich mich nicht mit Politik. … Wichtiger war mir, endlich eine Möse vor die Flinte zu bekommen, einen guten Song zu schreiben, einen störenden Pickel am Rand der oberen Lippe auszudrücken.
Das Buch von Vidojkovic ist inzwischen nicht nur ein zeitgeschichtliches Dokument. Mit ihm hielt auch eine neue Sprache Einzug in die serbische Literatur – der derbe, ironische Slang der Belgrader Vorstädte. Vidojkovic sagt heute rückblickend, er habe darüber schreiben wollen, wie junge Leute damals den Beginn jener Krisenzeit wahrnahmen, der zu dem Zustand führte, in dem sich Serbien heute befindet. „Ich habe erst spät meinen Stil analysiert. Auch wenn es sich um eine hyperrealistische Art und Weise des Schreibens handelt, arbeite ich doch mit vielen Symbolen und Metaphern. Man kann meine Romane nehmen wie sie sind. Als Abbild des realen Lebens ohne Hintersinn. Zugleich aber gibt es eine Metaebene, die ihnen – so hoffe ich – noch eine zweite Dimension verleiht, die sich aber nicht jedem beim ersten Lesen erschließt.“