Russland

Glasfassaden statt Holzhausromantik

Nowosibirsk (n-ost) - Russische Innenstädte haben viele Gesichter. Da gibt es sozialistische Plattenbauten, den pompösen Stil der Stalinära, neumodische Glasfassaden, aber auch alte russische Holzhäuser und niedrige Ziegelbauten aus Zeiten vor der Revolution. Doch diese Zeugnisse des 20. Jahrhunderts verschwinden in den letzten Jahren zunehmend. Was bislang schon im Wirtschaftswunderland China zu beobachten war, greift nun auch im neuen Russland um sich. Selbst in Provinzstädten hat der Wirtschaftsaufschwung der letzten Jahre für einen heftigen Bauboom gesorgt. Stadtzentren werden modernisiert, ohne Rücksicht auf Verluste.

„Wir wohnen bei Bekannten, schon drei Monate, wohin sollen wir auch? Obwohl man uns verspricht, dass wir Wohnungen bekommen, haben wir noch keinen Bezugsschein erhalten“, klart Nasim Baimursin. Seine Aufregung ist verständlich. Bislang wohnte Nasim Baimursin mitten in Ufa, einer Millionenstadt am Ural. Doch seine alte Wohnstätte wurde abgerissen. Auf die Entschädigung wartet er noch immer. Ein Investor baut dort inzwischen ein Hochhaus, der Widerstand der bisherigen Anwohner war zwecklos. Der 15-jährige Nikita Apakow schildert den Kampf mit den Bauherren: „Man hat mich geschlagen und mit Reizgas vergiften wollen. Die Polizei hat uns nicht geholfen!“ Die lokale Presse berichtete über den Fall nur sehr eingeschränkt – denn die Stadt schaut gern weg, wenn Investoren die alten, oft feuchten Gebäude durch moderne Glasfassaden ersetzt.

Die Herangehensweise ist überall in Russland ähnlich: Um Bauland zu gewinnen, werden die Städte umgestaltet. Nicht immer geht es dabei so glimpflich ab, wie in Kaliningrad, dem früheren Königsberg. Hier erfreuen sich die aus deutscher Zeit gebliebenen und jahrzehntelang vernachlässigten Mietshäuser wieder großer Beliebtheit. Der Wohnungsmangel hat dafür gesorgt, dass einfach neue Stockwerke auf bestehende Altbauten gesetzt werden. Wie es mit der Stabilität aussieht, ist da eher zweitrangig – deutsche Häuser gelten als solide. Auch die aus deutscher Zeit erhaltenen Villen erfreuen sich einer neuen Wertschätzung. Es gilt als Schick, in einem „europäischen“ Haus zu wohnen. Und wer keine alte Villa findet, baut sich eine neue in einem deutschen Fantasiestil mit Türmchen und Erkern.

Auf der Abschussliste scheinen dagegen die für Russland so typischen und als rückständig geltenden Holzhaussiedlungen zu stehen, wie sie östlich von Moskau oft anzutreffen sind. Aber auch wunderschöne alte Kaufmannshäuser aus der Zarenzeit verschwinden zunehmend. Die Bewohner werden offiziell mit „vergleichbarem Wohnraum“ entschädigt. Verglichen wird aber nur die Wohnfläche. Garagen, Schuppen, die angebaute Banja – die russische Sauna – sowie der Vorgarten mit den Gemüsebeeten werden nicht entschädigt. Oft liegen die neuen Wohnungen weitab des alten Hauses.

Viele Bewohner stimmen der Umsiedlung dennoch zu. Manchmal, um endlich in den Genuss von fließendem Wasser zu kommen. Oft aber auch aus der Angst heraus, alles zu verlieren. Denn wer sich nicht enteignen lässt, wird vertrieben. Meist fängt das Gebäude „zufällig“ Feuer. Nach russischem Eigentumsrecht besitzen die meisten Familien nur das Haus oder die Wohnung – nicht aber den Grund. Ist das Haus abgebrannt, lässt sich auch nichts mehr entschädigen.

Feuer sind eine beliebte Methode, den Denkmalschutz zu umgehen. In der sibirischen Metropole Nowosibirsk sind schon mehrere alte Gebäude ausgebrannt, auch Denkmäler im so genannten sibirischen Jugendstil. Das alte „stille Stadtzentrum“ weicht nach und nach dem westlichen Einheitsstil aus Glas und Beton. Auch die örtliche Verwaltung beteiligt sich aktiv – ein staatliches Ärztehaus in einem alten Nowosibirsker Holzhaus zieht gerade um. Die Ärzte zeigen in privaten Gesprächen Unverständnis, dass ein vollkommen intaktes, zweistöckiges Holzhaus weichen soll. Die Stadt ist 112 Jahre alt, das Gebäude 103 Jahre. „Manche begreifen es nicht“, kommentiert eine der Ärztinnen kopfschüttelnd.

Im benachbarten Tomsk, bekannt für seine Holzarchitektur ist das Bild ähnliches. „Tag für Tag nimmt die Zahl der Holzbauten ab“, klagt die Studentin Natalija Karpowa. „Interessant sind dabei die Wege, wie die Hauser verschwinden. Nicht selten werden sie in Brand gesetzt. Offizielle Version dabei ist Kurzschluss oder unvorsichtiger Umgang mit dem Feuer.“ Dass zumindest einige Häuser jetzt doch erhalten und sogar renoviert wurden, ist vielleicht dem Besuch von Angela Merkel zu verdanken, die sich hier im April zu Regierungskonsultationen mit Präsident Wladimir Putin traf.

Zumindest auf dem Papier spielt Denkmalschutz in Russland durchaus eine große Rolle. So muss in Moskau beispielsweise jedes Bauvorhaben im Umfeld des Kreml von höchster Stelle abgesegnet werden, damit das Panorama der Stadt nicht verschandelt wird. Doch je weiter ein Haus vom Kreml entfernt stehe, desto weniger ist das Papier wert, auf dem denkmalschützerische Auflagen stehen. Anlässlich des 1000-jährigen Jubiläums der Wolgametropole Kasan gab es beispielsweise ein „Programm zur Beseitigung baufälligen Wohnbaubestandes und Umgestaltung der Stadtquartiere mit baufälligem Wohnbaubestand in Kasan“. Von unzähligen Altbauten sollten 232 denkmalgerecht restauriert werden, 661 waren unter nicht ganz so strengen Auflagen zu erhalten. In der Praxis sah es anders aus: Der Charme einer russischen Kaufmannsstadt wich pünktlich zum Jubiläum 2005 schnell hochgezogenen Neubauten, deren Fassaden in den verschiedensten Stilrichtungen schillern. Weder staatliche noch private Einflussnehmer zeigten ein wirkliches Interesse am Erhalt der alten Gebäude. Sie hatten nur noch einen Zweck: Als Ziegellieferant – Baumaterial zum Sonderpreis.


ENDE




Name des Autors: Norbert Schott


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