Abkühlen wie der Adel
Temperaturen an die 40 Grad, Smog und Rauch: Auch Touristen leiden unter der Moskauer Hitzewelle. Eine Entdeckung sind deshalb die Landhäuser des alten Adels vor den Toren der Hauptstadt. In den Herrenhäusern und Parks entflieht man nicht nur der Hitze, sondern vergnügt sich wie im 18. Jahrhundert. Klassische Konzerte und Kostümfeste erinnern an eine Welt rauschhafter Ausschweifungen – und an eine tragische Liebesgeschichte.
Wer am Eingang der Herrenhäuser von Kuskowo und Ostankino in die übergroßen Filzpantoffeln schlüpft, tritt in eine andere Welt. Lautlos gleitet er über raffiniert verlegtes Parkett, dessen Muster wirbelnde Tanzschritte imitiert. Er berührt Säulen wie aus Marmor und lässt seinen Blick über die Gobelins an den Wänden schweifen. Bei Kostümfesten imitieren Moskauer und Touristen noch heute den russischen Adel des 18. Jahrhunderts und schwelgen im Glanz vergangener Feste. An Sommerabenden entfliehen sie der Hitze der Stadt und genießen in großzügig angelegten Parks klassische Konzerte.
Die Paläste von Kuskowo und Ostankino gehörten den Scheremetjews, einem der mächtigsten russischen Adelsgeschlechter. Pjotr Scheremetjew war Kammerherr bei Hofe und wurde durch eine wohlüberlegte Heirat neben dem Zaren zum reichsten Mann Russlands. 1769 ließ er sich in Kuskowo bei Moskau ein klassizistisches Herrenhaus errichten.
Der Landsitz des Grafen war für seine ausschweifenden Feste berühmt. Bis zu 25.000 Gäste kamen, wenn Scheremetjew einlud. Sie erlebten ein Spektakel ohnegleichen: Leibeigene stellten auf einem künstlichen See vor dem Palast Schlachten nach und feierten danach den Sieg: mit Bankett und Tanz, Konzert und Feuerwerk.
Einen Abend lang ließ man sich treiben im rauschhaften Vergnügen, tauchte ein in eine Welt der perfekten Illusion. Kuskowo war eine riesige Bühne – für die feine Gesellschaft und alle, die so gern zu ihr gehört hätten. Dazu passte ein Schloss, in dem nichts ist, wie es scheint. Die Säulen im Ballsaal, auf den ersten Blick Marmor und teuerster Stein, sind tatsächlich aus Holz und kunstvoll bemalt. Ebenso die anmutigen Statuen davor: Einige sind echt, die anderen täuschend ähnlich kopiert. Nicht einmal jeder Führer im Museum kann sie auseinanderhalten. Die Lüster und Vasen, der Goldschmuck um Spiegel und Balustraden: alles Gips, Holz und Pappmaché, glänzend lackiert.
Die Freude der Festgesellschaft schmälerte das nicht im Geringsten, zumal ihre Gastgeber sie durch allerlei Scherze ablenkten. Die Herren amüsierten sich köstlich, wenn sich der Spiegel, vor den ihre Begleiterin trat, als Fensterglas entpuppte. Sie selbst begutachteten mit gewichtigem Gesicht das vermeintliche Bücherregal im Kabinett, griffen manchmal gar zu, bevor sie die Malerei auf der Tapete erkannten.
In den weitläufigen Parks und Gärten rund um den Palast setzten sich derlei Spielereien fort. Da verlor sich ein malerischer Pfad plötzlich im Nirgendwo und lustwandelnde Damen quietschten vor Vergnügen, wenn eine versteckte Fontäne sie bespritzte. Über 230 Hektar erstreckte sich das zu Kuskowo gehörende Land.
Heute sind es noch 32 Hektar. Viele Wasserspiele, Statuen und die zur Kurzweil der Gäste erbauten Pavillons sind erhalten. Eine barocke Eremitage steht als Gemäldegalerie mitten im Garten, daneben ein holländisches Backsteinhäuschen und eine Villa im Stil der italienischen Renaissance. Eine verspielte Grotte imitiert in der Sommerhitze eine kühle Unterwasserwelt: Die Stufen am Eingang gleichen Wellen, die Ziergitter an den Fenstern verschlungenen Algen. Glitzernde Steine laufen wie Tropfen die Wände herunter und kühlen schon beim Hinschauen das Gemüt derer, die hier an lauen Abenden Kammerkonzerten lauschen.
Glanzstück des Parks war im 18. Jahrhundert das Amphitheater. Dabei hatte Pjotr Scheremetjew es nur als modische Zugabe für seinen Landsitz geplant. Denn ein Theater erlaubte es ihm, selbst den Zarenhof einzuladen. Katharina die Große war begeistert. Also ließ Pjotrs Sohn Nikolai 1792 in Ostankino einen noch größeren Saal erbauen und führte das Scheremetjew-Theater dort zu höchstem Ruhm.
Schauspieler und Tänzer wählte Scheremetjew in jungen Jahren unter seinen Leibeigenen aus und ließ sie von Lehrern aus Europa unterrichten. Neben französischen und italienischen Opern, die der Adel damals über alles liebte, führte sein Ensemble auch einheimische Stücke auf – mit großem Erfolg. Viele kamen in Ostankino auf die Bühne, bevor sie der Zar in seinem Hoftheater sah.
Unter den fast 200 leibeigenen Künstlern Scheremetjews war eine einzige im ganzen Land bekannt: Praskowja Schemtschugowa, genannt "die Perle". Graf Nikolai hatte die Tochter eines Schmieds unter seinem Dienstvolk entdeckt und in Gesang ausbilden lassen. Mit elf Jahren stand sie zum ersten Mal in Kuskowo auf der Bühne und wurde binnen eines Jahres zur Primadonna des Theaters.
Den 17 Jahre älteren Grafen verzauberten nicht nur ihre Anmut und unvergleichlich klare Stimme, sondern auch "die Schönheit ihres Geistes und ihrer Seele". Jahrelang war er zwischen Verstand und Gefühl hin- und hergerissen: Unmöglich konnte ein Edelmann in seiner Position eine Leibeigene heiraten. Tatsächlich aber war Praskowja seit Anfang der 90er Jahre seine Geliebte. 1794 nahm er sie mit nach Ostankino und lebte zurückgezogen mit ihr im Palast.
Die Moskauer jubelten der brillanten Sängerin auf der Bühne zu – doch als ihnen der Tratsch über die skandalöse Verbindung zu Ohren kam, wurde sie geächtet. Die feine Gesellschaft verstieß den Grafen, er flüchtete nach St. Petersburg. In der feuchtkalten Stadt aber erkrankte Praskowja an Tuberkulose. Der Arzt verbot ihr das Singen. Scheremetjew schenkte ihr die Freiheit und vermählte sich 1801 heimlich mit ihr. Zwei Jahre später gebar sie ihm einen Sohn – und starb, von der Krankheit geschwächt. Tief bekümmert blieb Scheremetjew zurück. Das Theater in Ostankino betrat er nie wieder.
Hintergrund:
Ein Besuch auf den Adelsgütern in Kuskowo und Ostankino lohnt sich vor allem im Sommer. Im Winter ist es in den Palästen schummrig, weil es kein elektrisches Licht gibt. Bei zu hoher Luftfeuchtigkeit bleiben die Gebäude geschlossen. In Kuskowo finden im Sommer klassische Konzerte und Kostümfeste statt. Das Porzellanmuseum zeigt eine umfangreiche Sammlung aus drei Jahrhunderten.
Anfahrt Kuskowo: Metrostation Rjasanski Prospekt, dann Bus 133 oder 208 sechs Stationen bis Ul. Junosti 2
Öffnungszeiten: Nov. bis März: Mi-So 10-16 Uhr außer letzter Mi im Monat, im Sommer bis 18 Uhr, Tel. 495-3700150, www.kuskovo.ru
Anfahrt Ostankino: Metrostation WdnCh, dann Tram 17 oder 11 bis Ostankino oder 20 Minuten zu Fuß bis zum Park
Öffnungzeiten: 16. Mai bis 30. September; Park: Mi-So 11-19 Uhr, Museum: Mi-So 12-16.30 Uhr nur mit Führung, 17-19 Uhr ohne, Tel. 495-6834645, www.museum.ru/Ostankino