Rückkehr zu einer langjährigen Geliebten
Der Mann mit dem Leierkasten ist eine Institution der Plovdiver Altstadt. Dantscho Troev zählt stolze 86 Jahre, seine „Laterna“, so die bulgarische Bezeichnung des hölzernen, schwarz gestrichenen Instruments, ist noch mal um 100 Jahre älter. Tagein, tagaus steht der Rentner mit dem langen, grauen Bart auf dem holprigen Kopfsteinpflaster der Saborna-Staße und dreht die Kurbel. Bulgarische, italienische und auch deutsche Lieder habe er im Programm, erzählt Troev, ein etwas mürrischer Zeitgenosse, der Touristen auch mal zurechtweist. Etwa, wenn sie ihn einfach so fotografieren. Das kostet nämlich umgerechnet einen Euro, wie auf seinem selbst gemalten Schild geschrieben steht. „Ich bin zwar alt“, sagt Troev und lehnt sich mit dem Ellbogen an sein Erbstück, „aber doch kein Baum oder Denkmal.“
An geeigneten Fotoobjekten mangelt es in Plovdiv nicht. Über Sehenswürdigkeiten stolpert man hier genauso häufig wie über das unebene Pflaster. Denn die antiken Reste liegen am Wegesrand – sei es nun das römische Stadion in der Fußgängerzone oder das beeindruckende Amphitheater, unter der ein Tunnel die dreispurige Ringstraße verschluckt.
Die heute zweitgrößte bulgarische Stadt ist eine der ältesten Siedlungen Europas – seit 6000 Jahren gibt es hier menschliches Leben. Auch die unterschiedlichen Namen der Stadt zeugen von der wechselhaften Geschichte. Eumolpia hieß sie unter den Thrakern, zu Philippopolis wurde die Stadt, als sie Philip von Makedonien einnahm, Trimontium nannten die Römer die Stadt und im osmanischen Reich wurde sie zu Filibe. 1878, nach dem Ende des russisch-türkischen Krieges, wurde Plovdiv die Hauptstadt der Provinz Ostrumelien, die nach dem Berliner Kongress – zur großen Enttäuschung der bulgarischen Nationalrevolutionäre – im osmanischen Reich verblieb. Erst sieben Jahre später wurde das Gebiet mit dem Fürstentum Bulgarien vereint. Damals waren alle Augen auf Sofia gerichtet, die Hauptstadt des neuen Staates, und das alt-ehrwürdige Plovdiv fiel auf den zweiten Platz zurück.
„Antik und ewig“ – das geschichtsträchtige Motto, mit dem das Tourismusamt heute wirbt, klingt irgendwie bekannt. Plovdiv – ein zweites Rom? Oder doch nur eine „balkanische Kopie der Ewigen Stadt“, wie der Schriftsteller Zlatomir Zlatanov weniger schmeichelhaft schreibt?
Dass auch Plovdiv auf sieben Hügeln erbaut wurde, wissen nur die wenigsten. Als Besucher registriert man die schroffen Steinberge mit Erstaunen. Aus der flachen thrakischen Ebene, einem fruchtbaren, vom Fluss Marica durchzogenen Agrarland, stechen sie unwillkürlich hervor. Was allerdings den Vergleich mit Rom betrifft – er hinkt, und zwar gehörig. Denn der sieben Hügel sind heute nur noch sechs. Man hat das felsige Gestein der niedrigsten Erhebung in den 1930er Jahren als Baumaterial verwendet. Und so wurde er einfach abgetragen. In harten Zeiten war pragmatisches Denken eben wichtiger als historische Vergleiche.
Auch die Plovdiver Altstadt ist auf einem übrig gebliebenen „tepe“ – das türkische Wort für Hügel – gelegen. Entlang der malerischen, verwinkelten Gässchen, in Sicherheit vor rasenden Autofahrern und ohne lästige Touristenströme, sind viele Gebäude im so genannten „Plovdiver Barock“ zu bestaunen. Sie erinnern an den einstigen Reichtum der Stadt: Im 18. und 19. Jahrhundert war Plovdiv ein Zentrum für Handwerk und Handel – von Textilien, Gold und Rosenöl. Wohlhabende Händler ließen sich prächtige Wohnhäuser mit Holzvorbauten und ausladenden Erkern bauen.
Nur ein paar Meter von Dantscho Troevs Standplatz entfernt, befindet sich das vielleicht außergewöhnlichste Haus. Es war einst im Besitz des Kaufmanns Agir Kuzhumdzhioglu, heute beherbergt es das Ethnographische Museum. Den Mittelteil des Hauses bildet ein oval geformter Salon, von dem man in zwei symmetrisch angelegte Trakte mit unzähligen Zimmern gelangt. Die Wände sind bunt ausgemalt, kunstvolle Holz-Einlegearbeiten säumen die Decken. Im Interieur dieser Häuser verbanden sich östliche und westliche Traditionen zu einer eklektizistischen Melange: da säumten für den Orient charakteristische, samtene Sitzbänke die Wände, da stand westeuropäisches Mobiliar auf bulgarischen handgewebten Teppichen, da wurde Tee in chinesischem Porzellan serviert.
Heute noch sind die Bewohner der Stadt auf ihre multikulturelle Geschichte stolz. „Die Seele der Plovdiver ist sehr weit, denn hier sind viele Völker vorbeigezogen“, sagt etwa Simantov Madjar. „Und damit die Plovdiver überleben konnten, mussten sie tolerant sein.“ Der ehemalige Ingenieur ist Vorsitzender der Organisation „Shalom“, die Plovdivs kleine jüdische Gemeinde vertritt. Was heute als gelungenes „ethnisches Modell“ bezeichnet werde, habe man hier schon immer in die Tat umgesetzt. „Früher hatten die Leute keinen eigenen Begriff dafür, sie haben einfach als Nachbarn gelebt“. Madjar ist selbst in Plovdiv aufgewachsen. Die einst bedeutende jüdische Gemeinde ist heute zahlenmäßig klein – ebenso wie die der Armenier, die seit Jahrhunderten in Plovdiv leben. Wenn man heute durch die Straßen der Stadt geht, dann kann man neben Bulgarisch vor allem Türkisch und Romanes hören.
Der bulgarische Lyriker Stefan Canev verglich die Rückkehr ins „alte Plovdiv“ einmal mit der Rückkehr zu einer langjährigen Geliebten: „Alles scheint bis zum Überdruss bekannt, und doch will ich es wieder erleben.“ Doch die verwinkelten Gässchen von „stari grad“ bilden heute nur noch einen kleinen Teil der 400000-Einwohner-Stadt, die heute vor allem durch ihre Messe bekannt ist.
Die Jugend bevorzugt die flache Neustadt, deren Fußgängerzone – von den Einheimischen schlicht „glavnata“, Hauptstraße, genannt – von bunt bemalten Jahrhundertwendehäusern gesäumt ist. Wenngleich sie auch an ihre mitteleuropäischen Vorbilder erinnern, so wirkt der Stuck an den zweistöckigen Häusern pompös. Elegant sind sie nicht gerade, aber in ihrer provinziellen Verspieltheit entbehren sie nicht eines gewissen Charmes. Das Pflaster der Fußgängerzone ist brandneu, Bänke wurden aufgestellt und Bäumchen gepflanzt. Im Sommer wird es hier siedend heiß. Von morgens bis spätabends promenieren Spaziergänger auf und ab, meist in kleinen Grüppchen, beäugt und bewundert von den Gästen der umliegenden Cafes.
In den letzten Jahren haben sich auf der Hauptstraße teure Boutiquen breit gemacht. Im neuen Einkaufstempel „Excelsior“ lässt sich die Welt der Neureichen betreten, und wenn es auch nur auf Rolltreppen ist, die Markenwaren wirken wie Ausstellungsobjekte. Jahrtausende werden im Interieur der Shoppingmall ohne Skrupel vermengt und recycelt: römische Säulen stehen neben Plastikblumen, Marmor blinkt neben Entlüftungsgittern, antike Büsten vor verspiegelten Wänden, und im Keller werden zu italienischer Musik Ausgrabungen präsentiert. „Mutri“ nennt man in Bulgarien Angehörige der Mafia, die Typen mit den charakteristischen Stiernacken. Der überbordende Kitsch, der die Stadt seit den Neunziger Jahren auch an anderen Plätzen wie eine Schicht aus Zuckerguss überzieht, trägt ihren Namen: „mutrenski barok“, der Barock der Mutri.
Wie heute die Neureichen versuchten auch einst die sozialistischen Stadtplaner, der Stadt ihren Stempel aufzudrücken. Das sichtbarste Denkmal befindet sich auf dem Bunardzhik-Hügel, von dem aus die sanften Kuppen des nahe gelegenen Rhodopengebirges, und bei gutem Wetter auch der weiter entfernte Balkan zu sehen sind. Hier thront, erreichbar über einen Stufenaufgang, der über zehn Meter hohe „Aljoscha“ aus Granit. Der sowjetische Soldat blickt seit fast 50 Jahren stolz und starr nach Osten, auf seiner Gürtelschnalle ein fünfzackiger Stern, in der rechten Hand eine Maschinenpistole. Aber auch die sozialistische Architektur ist nur ein Eroberungsversuch unter vielen geblieben.
Schaut man mit Aljoscha hinunter, dann sieht man ein Gesamtkunstwerk, ein heilloses Neben- und Übereinander von Epochen und Stilen. Und aus der Entfernung gesehen lässt sich die Einsicht gewinnen, dass das Prinzp des „Copy and Paste“, das hier vorgemacht wird, vielleicht gar nicht so schlecht ist.