„Tschajka – russki Rolls-Roys“
Moskau (n-ost) - „Behüt uns Gott vor bösen Frauen und Autos, die die Russen bauen“ – wurde in der alten DDR gelästert. Das war unfreundlich, stimmte aber mit russischen Urteilen überein: „Über Erzeugnisse der russischen Autoindustrie zu schimpfen, ist unsere alte Gewohnheit“, stand noch unlängst in der russischen Fachzeitschrift „Za rulem“ (Am Lenkrad) – um daran aber einen langen Bericht über die Begeisterung von Westeuropäern für den russischen „Lada“, dem „Auto für Individualisten“, anzufügen.
Die Russen konnten immer Autos bauen, nicht nur billige. Dafür sorgte seit den frühen 1920er Jahren das NATI, das „Wissenschaftliche Auto- und Traktoreninstitut“ in Moskau. Was dort ertüftelt und erprobt wurde, ging in der Stadt Gorki in Serie. Die Stadt, die seit den 90er Jahren wieder ihren alten Namen Nishnij Nowgorod trägt, liegt 600 Kilometer östlich von Moskau am Zusammenfluss von Wolga und Oka. Hier war Anfang er 30er Jahre in nur 17 Monaten Bauzeit das ausladende „Gorki-Auto¬werk“ (GAZ) entstanden.
Vier Jahrzehnte prägte der erfindungsreiche Andrej Lipgart (1889-1980), Abkömmling einer alten deutschen Technikerfamilie aus Moskau, die russische Automobilindustrie. Bereits als Student am NATI hatte er im Mai 1927 ganz Moskau begeistert, als er mit seiner Eigenkonstruktion NAMI-1, dem „ersten sowjetischen PKW“, Probefahrten durch die Hauptstadt unternahm. Lipgarts Karriere erreichte am 16. Januar 1959 ihren Höhepunkt: Von den Bändern in Gorki rollte damals das Modell GAZ-13, genannt „Tschajka“ (Möwe). Bis 1988 Flaggschiff der russischen Automobilflotte.
Allein mit Lipgarts technischem Genie wären russische Autos wohl nicht weit gekommen. Aber wie es ein altes russisches Sprichwort sagt: „Der Deutsche schaffts mit dem Verstand, der Russe mit den Augen“. Augen, die anfänglich fest auf Konstruktionspläne geheftet waren, die der US-Konzern „Ford“ den Russen freundschaftlich überlassen hatte. 1930 absolvierte Lipgart selbst sein erstes von zahlreichen US-Praktika, während derer er die technischen und administrativen Fertigkeiten erwarb, die ihn umgehend zum Chefkonstrukteur des GAZ in Gorki prädestinierten.
Unter Lipgarts rigoroser Leitung entstanden zahlreiche PKW, LKW, Busse, Schwimmwagen, Rennautos und im Zweiten Weltkrieg auch Panzer und Jeeps, die alle ausschließlich Nummern trugen und entsprechend anonym ausfielen. Die meisten Produkte waren unzweifelhaft als Kopien amerikanischer Marken auszumachen, allerdings waren sie so solide, dass sie russischen Straßen- und Wetterverhältnissen trotzen konnten. Nach Kriegsende bereicherten demontierte deutsche Produktionsanlagen, darunter die von Opel, die russische Produktion – gerade zur rechten Zeit, um neue Aufträge des Kreml für „wirtschaftlichere Autos“ zu erfüllen. Heraus kam der GAZ-20, vom dem am 19. Juni 1945 Stalin persönlich zwei Modelle vorgestellt wurden, beide mittels der üblichen Probefahrt „Gorki – Moskau“ erprobt.
Der stärkere Sechszylinder „riecht zu luxuriös“, befand Stalin – worauf Lipgart ihm den bescheideneren Vierzylinder offerierte. Stalin stieg ein, Lipgart startete zu einer Demonstrationsfahrt rund um den Kreml („eine der wenigen Gelegenheiten, wo man ihn lächeln sah“, erinnern sich Augenzeugen), das Auto wurde „gebilligt“. Einmal am Ball, baten die Erbauer den Kremlherrscher, dem Wagen den Namen „Pobeda“ (Sieg) zu gestatten. Stalin grummelte nur: „Na ja, so groß war der Sieg auch wieder nicht, aber meinetwegen Pobeda“. So wurde jenes legendäre Auto getauft, das als einziges selbst stundenlange Vollgasfahrten über russische Schlaglochpisten klaglos überstand.
Dreimal wurde Lipgart mit dem begehrten „Stalin-Preis“ dekoriert – 1947, 1950 (für den „Pobeda“) und 1951 - was ihn nicht davor bewahrte, in tiefste Ungnade zu fallen. 1951 denunzierte ihn ein gewisser Kreschtschuk, ein neidischer Mitarbeiter aus Gorki, und Lipgart wurde in ein provinzielles Werk im tiefsten Ural strafversetzt. Im März 1953 starb Stalin, und sofort holte das Moskauer NAMI seinen einstigen Musterstudenten aus der Verbannung, um ihm höchste akademische Weihen in der Hauptstadt zu überantworten. In Gorki hatte man derweil nach Lipgarts Entwürfen an die Entwicklung des GAZ-13 „Tschajka“ gemacht – ein wuchtiges, flossenbestücktes Luxus-Kabriolett, dessen Werbefotos mit Vorliebe vor Moskauer Kremltürmen geschossen wurden.
Rein äußerlich besaß die „Tschajka“ – der Name wurde von russischen Autoexporteuren für ausländische Kunden geprägt – einen robusten Charme, technisch war sie ein Alptraum: Drei Tonnen Gesamtgewicht, 195 PS, 160 km/h Spitzengeschwindigkeit, Verbrauch 21 Liter auf 100 Kilometer. Aber sie machte etwas her und war deshalb der bevorzugte Wagen für Minister, Parteibosse, Botschafter und vergleichbare Figuren im Inland und in den „Bruderländern“. Nur rund 150 „Tschajkas“ wurden pro Jahr gefertigt, lediglich eine Handvoll ging an verdiente Individuen: Parteichef Nikita Chruschtschow verschenkte sie etwa an den Literatur-Nobelpreisträger Michail Scholochow, den Kosmonauten Jurij Gagarin, die Ballerina Galina Ulanova und – Fidel Castro. Ein rundes Dutzend offene „Tschajkas“ wurde auf Wunsch des Verteidigungsministeriums gebaut – für „Paradezwecke“. Dennoch kamen ungezählte Russen in den Genuss einer „Tschajka“-Fahrt: Abgeschriebene Fahrzeuge wurden den staatlichen „Hochzeitspalästen“ überlassen, um junge Brautpaare ein bisschen herum zu kutschieren – für ein Entgelt von 50 Rubeln, damals ein halber Monatslohn.
Eingangs der 1970er Jahre bekam das GAZ den Auftrag, eine „modernisierte“ Version der „Tschajka“ zu bauen. Der neue Wagen GAZ-14 wurde leichter und leistungsfähiger, sparsamer und spritziger. Ganze 1.120 Exemplare wurden in den Jahren 1976 bis 1989 gebaut, aber die besaßen unverändert das „privilegierte“ Image eines „russki Rolls-Roys“. Dem rückte 1988 ausgerechnet Michail Gorbatschow zu Leibe – zum 24. Dezember 1988 wurde die Produktion der „Tschajka“ eingestellt. 1996 wollte die Werksleitung von GAZ eine Neuauflage wagen und – griff komplett ins Leere: Alle Konstruktionspläne waren vernichtet, alle technischen Dokumentationen zerschreddert, alle Produktionsbänder abgebaut, alle Blechpressen verschrottet. Aus dem Mythos „Tschajka“ war endgültig das Phantom gleichen Namens geworden
Ende
Name des Autors Wolf Oschlies: