Russische Verkehrsdemokratie
Moskau (n-ost) - „Hier gilt die StVO!“ steht trotzig auf einem Schild am Ortseingang einer vornehmlich von deutschen Botschaftsangehörigen bewohnten Siedlung inmitten von Moskau. Dieser nachdrückliche Hinweis schien den Initiatoren sicher deshalb angebracht, weil auf den Verkehrswegen außerhalb dieser unbeugsamen Ansiedlung weder die bundesrepublikanische, noch irgendeine andere Ordnung zu gelten scheint.
Gesetze, Verordnungen und Vorschriften werden von russischen Verkehrsteilnehmern gerne mit Nichtbeachtung gestraft. Man gibt sich relativ unabhängig von den Interessen der anderen Verkehrsteilnehmer und nimmt sich einfach seinen Raum. Derjenige, der sich für besonders stark hält, nimmt sich deutlich mehr heraus als andere. Dies trifft besonders auf Halter von Automodellen zu, von denen man mitunter auch in Mitteleuropa sagt, ihre Gefährte besäßen wohl eine eingebaute Vorfahrt. Fahrer von Groß-Karossen, die meist im Süden Deutschlands gefertigt wurden, preschen oft an einer Schlange wartender Autos vorbei und setzen sich vor diese an einer Ampel. Akustische oder andere Warn- und Drohsignale der „Überfahrenen“ ruft dies nicht hervor. Mit den Reichen und Mächtigen sollte man sich besser nicht anlegen. Für diese gelten die Regeln und Gesetze im russischen Straßenverkehr noch eingeschränkter als bei den Normalbürgern. Verbitterung bei den Schwächeren war bislang kaum zu spüren. Man schien sich mit dem Unvermeidlichen abgefunden zu haben und wich ohne Groll vor der Stärke.
Aber die Zeiten ändern sich. Der russische Autofahrer, die PS-gestärkte Speerspitze des russischen Mittelstandes, begehrt auf, Gleichmut und Unterordnungswilligkeit sind in Russland auf dem Rückzug. Und das kam so:
Im August 2005 fuhr der Bahnarbeiter Oleg Schtscherbinski seine Kinder und die Schwiegermutter mit seinem alten Toyota von der „Datscha“, dem russischen Wochenendhaus, in die Stadt. Ein anderes, voluminöseres Fahrzeug fuhr zur selben Zeit dieselbe Strecke, ebenfalls von einer Datscha kommend, allerdings von einer größeren. Im Fahrzeug befand sich Michail Jewdokimow, der Gouverneur der Region „Altai“, eines Gebietes, das weiter von Moskau entfernt liegt als Berlin. Jewdokimow war aber nicht etwa nur eines der 88 Oberhäupter irgendeines russischen Gebietes, er gehörte vor seiner politischen Karriere zu den beliebtesten Schauspielern des Landes. Jemand, der pfiffige und aufrechte „kleine Leute“ spielte, ein russischer Heinz Rühmann.
Jewdokimows Dienstmercedes überholt mit Tempo 200 Schtscherbinskis Gefährt, streift den Toyota, kommt von der Fahrbahn ab, fliegt durch die Luft und zerschellt an einem Baum. Der Gouverneur und sein Fahrer sind tot, die Gattin überlebt. Russland trauert und der Präsident kondoliert. Der Toyotafahrer wird angeklagt und zu vier Jahren Haft verurteilt, weil er dem rasenden Mercedes mit dem Blaulicht nicht ausgewichen sei. Ist es die Trauer um den toten Volkshelden Jewdokimow, die der Untersuchung von Anfang an eine für den Bahnarbeiter ungünstige Tendenz verlieh? Oder handelt es sich um einen (weiteren) Fall einseitiger Rechtsprechung zu Gunsten der Mächtigen? Russische Zeitungen hatten wenige Monate zuvor berichtet, dass Alexander Iwanow, der 28-jährige Sohn des Verteidigungsministers, eine Fußgängerin angefahren hatte, die an den Unfallfolgen starb. Die Polizei konstatierte, dass die Tote schuld sei.
Der Fall Schtscherbinski aber bringt das Fass zum Überlaufen. Eine Protestwelle bricht los, trotz der Beliebtheit des Ex-Schauspielers. In zahlreichen russischen Städten demonstrieren zehntausende Autofahrer in Autokorsi gegen die Verkehrsprivilegien der oberen Kaste. Denn nicht nur tausende Politiker und Bürokraten drängen mit Blaulicht und Sirenen Bürger an den Rand, sondern auch zahllose Reiche, die sich die Sonder“rechte“ gekauft haben.
Schtscherbinski geht in die zweite Instanz, das ganze Land verfolgt atemlos den Prozess, und das russische Parlament, die „Duma“, debattiert wiederholt über das Thema. Abgeordnete fordern, das „Recht auf Blaulicht“ auf die fünf höchsten Repräsentanten des Landes zu beschränken. Verkehrsexperten stellen sich auf die Seite des Beklagten: Er habe das Amtsfahrzeug wegen der steil ansteigenden Straße einfach nicht sehen können. Selbst die kremlnahe Partei „Einheitliches Russland“ reagiert auf den öffentlichen Druck und zeigt Sympathie für den Verurteilten.
In der zweiten Instanz wird Oleg Schtscherbinski Ende März 2006 freigesprochen. Die russische Gesellschaft hat Reife bewiesen und der Staat Lernfähigkeit. Ob dies in Putins „gelenkter Demokratie“ Schule macht? Ein weiteres Beispiel stimmt optimistisch: Bei Rechtsstreitigkeiten zwischen russischen Bürgern und dem Staat über Steuerzahlungen gewinnt der Staat nur zehn Prozent der Fälle, wie die Consultinggesellschaft „Ernst & Young“ konstatiert. Es gibt Anzeichen, dass Staat und Mächtige größere Bereitschaft zeigen, sich an Gesetze zu halten, auch wegen des zunehmenden Selbstbewusstseins des russischen Bürgers. Ob dieser in Zukunft im Gegenzug ebenfalls den Verkehrsregeln und den Interessen anderer Verkehrsteilnehmer vermehrte Aufmerksamkeit schenken wird?
Ende
Dr.Christian Wipperfürth