Russland

Jurij Gagarin und seine Weltraum-Premiere

Kerpen (n-ost) - Cottbus, Dresden, Gera, Magdeburg, Potsdam und so weiter bis Zwickau – das ganze Alphabet hakt man mühelos ab mit den Namen der ostdeutschen Städte, in denen Jurij-Gagarin-Straßen bestehen. Sie alle sind nach einem kleinen Russen benannt, der vor 45 Jahren, am 12. April 1961, eine Großtat vollbrachte: Eine Stunde und 48 Minuten lang flog Gagarin an Bord des Raumschiffs „Wostok“ (Osten) als erster Mensch durch den Weltraum. Danach war er ein international gefeierter Heros, der mit seinem jungenhaften Lächeln die ganze Welt bezauberte – bis er am 27. März 1968 unter ungeklärten Umständen bei einem Flugzeugunglück ums Leben kam.

Jurij Aleksejewitsch Gagarin wurde am 9. März 1934 im Dorf Kluschino, 200 Kilometer südwestlich von Moskau geboren – eine abgelegene Welt, in der die Zeit so stehen geblieben war, dass der Dorfpope trotzt Kommunismus weiterhin alle Kinder taufte, natürlich auch den Neugeborenen der armen Kolchosbauern Aleksej und Anna Gagarin. 1941 wurde das Dorf von der deutschen Wehrmacht besetzt, eine Schwester und ein Bruder Gagarins nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt. Mit dem Krieg ist auch ein Schlüsselerlebnis verbunden, das den kleinen Jurij vom Fliegen fasziniert haben soll. So soll er Zeuge des waghalsigen Landemanövers eines russischen Piloten geworden sein, der einen verunglückten Fliegerkollegen auflas und damit vor den Deutschen rettete.

Gagarin wurde die Dorfwelt bald zu eng. 1951 begann er in Moskau an einer Handwerkschule eine Ausbildung zum Gießer, die er 1955 in Saratow fortsetzte. In dieser alten Industriestadt an der Grenze zur ehemaligen „Wolgadeutschen Republik“ war Gagarin Aktivist im örtlichen „Aeroklub“, und als ihn 1955 die Roten Armee einzog, kam für ihn nur die Fliegerei in Frage. Die Medizinische Kommission winkte bei seiner geringen Körpergröße von 165 Zentimetern zuerst ab, aber 1957 konnte Gagarin doch noch „Militärflieger Erster Klasse“ werden.

Inzwischen war nämlich sein geringer Wuchs gefragt – vor allem von Sergej Koroljow (1907-1966), dem Vater des sowjetischen Raketenbaus. Aus Koroljows Werkstatt stammte die R-7-Rakete, die am 4. Oktober 1957 den „Sputnik“ in eine Erdumlaufbahn gehievt hatte. Technisch hatte man den Raketenflug im Griff, war aber ahnungslos, wie ein Mensch im Kosmos reagieren würde: Fiel er während des Flugs in Ohnmacht? Würde er schwerste psychische Folgeschäden davon tragen? Und überhaupt: Was für Menschen passten in den „Scharik“ (Luftballon), die enge Kapsel der „Wostok“?

Die Antwort gab Mark Gallaj (1914-1998), legendäres Flieger-As und erster Kosmonauten-Trainer: Keine groß gewachsenen „Überflieger“ brauchte man, sondern kleine, unauffällige Typen, solche, „von denen du in jedem Fliegerregiment ohne Mühe zwanzig auftreibst“. Eben einen wie Gagarin, der mit 19 Kameraden am 11. März 1960 seinen Dienst in der neuen „Kosmonauten-Truppe“ antrat.

Die Ausbildung musste rasch und intensiv sein, sollte man nicht von den Amerikanern und deren Astronauten Alan Shepard (1923-1998) im Wettlauf zum Kosmos noch überholt werden. Koroljow entschied, gleich das erste „Startfenster“ für die „Wostok“ zu nutzen und sie früher als geplant auf die Reise zu schicken, bemannt mit dem Kleinsten der Truppe, Gagarin, der schon als Flieger nur dank eines Spezialkissens an die Instrumente im Cockpit heranreichte.

Über solche und andere Details werden in Russland heute zahllose Anekdoten erzählt – beispielsweise über die drei vorbereiteten Bulletins der Nachrichtenagentur TASS, die je nach Ausgang des Unternehmens fein abgestuft waren – feierlich für den Erfolg, Hilferuf für den Fall einer Notlandung in fremden Territorien, Trauerton für eine etwaige Explosion.

Aber es ging ja alles gut: Das geheime „Kuvert 25“ für die Notsteuerung blieb verschlossen. Gagarin absolvierte in der klaglos funktionierenden „Wostok“ einen völlig passiven Sightseeing-Flug. 108 Minuten lang umkreiste Gagarin als erster Mensch einmal die Erde. Nur die Landung verlief nicht wunschgemäß: Anstatt 110 Kilometer südlich von Stalingrad (heute Wolgograd) entstieg Gagarin 600 Kilometer weiter nördlich bei der Stadt Engels seiner Landekapsel.

Die Waldarbeiterin Anna Tachtarova und ihre sechsjährige Enkelin Rita entdeckten als erste den leicht desorientiert herumirrenden Gagarin. Danach kamen ein paar Soldaten des benachbarten Raketenstützpunkts Podgorje, schließlich auch der Kommandant Major Ahmed Gasijew, der Ordnung in das Treiben brachte: Soldaten bewachten die „Wostok“, Gagarin ging zum Stützpunkt, um dort ordnungsgemäß Meldung zu machen. Doch eine Verbindung nach Moskau kam nicht zustande, weshalb Gagarin in Ruhe Autogramme in ihm hingehaltene Parteiausweise malte, während Dutzende Hubschrauber im Süden Russlands nach ihm und der „Wostok“ fahndeten.

In Moskau wurde schließlich am 12. April Jurij Levitan, der ob seiner sonor-theatralischen Stimme nur für feierlichste Anlässe eingesetzte Chefsprecher des Rundfunks, aus tiefstem Mittagsschlaf geholt, um die große Neuigkeit zu verkünden. Unter Freudentränen habe er den Text gelesen, erinnerte sich Levitan später, und das sei ihm nicht einmal passiert, als er am 9. Mai 1945 die Nachricht von der Kapitulation Deutschlands zu verlesen hatte.

Über Gagarin schlug eine Berg von Orden, Ehrungen, Feiern, Geschenken, Beförderungen, Ehrenbürgerschaften, Ehrenmitgliedschaften und ähnlichem zusammen, die dieser kleine Mann mit dem stets gleichen freundlichen Lächeln an sich abgleiten ließ. So hatte es damals den Anschein. Doch neue gefundene Dokumente sprechen eine andere Sprache: Der Bauernjunge aus Kluschino, der zum Helden der Menschheit geworden war, sprach gelegentlich etwas stark dem Wodka zu und verursachte mit geschenkten Nobelkarossen so manchen Crash (für die die Miliz stets den Opfern die Schuld geben wollte, wenn sie Gagarin erst erkannt hatte). Doch Gagarin fing sich wieder, auch dank seiner Frau Valentina, und den Töchtern Jelena und Galina. Letztere war einen Monat vor dem Flug in den Kosmos zur Welt gekommen.

Gagarin reiste als Held der Menschheit und Botschafter des Kommunismus um die Welt. Für zwei Legislaturperioden wurde er Angeordneter des Obersten Sowjet. Als Leutnant avancierte er zum Oberst und stieg zum Chef der gesamten Kosmonautenausbildung und Mitarbeiter an ehrgeizigen Raumprojekten auf. Und er blieb selber Kosmonaut und Flieger – bis zum 27. März 1968, als eine von ihm und seinem Kameraden Sergenin geflogene Maschine um 10.31 Uhr nahe der Stadt Kirschatsch nördlich von Moskau zerschellte.

Angeblich war es ein tragischer Unfall, provoziert durch schlechte Sichtverhältnisse. Augenzeugen, die erst Jahrzehnte später offen reden konnten, sagten aber, es sei ein klarer Sonnentag gewesen. Es gibt auch deshalb unendlich viele Versionen von Gagarins Tod, darunter auch brisante, denn die Unglückszone war „wegen geheimer Objekte“ für jegliche Überflüge gesperrt. Der wahrscheinlichste Gang der Ereignisse dürfte aber so aussehen: Gagarin hatte einen höchst angespannten Tag, seine Frau lag in einem Krankenhaus, Sergenin fühlte sich nicht wohl – beide haben wohl den Stress mit Wodka betäubt und sind losgeflogen. Unterwegs muss Sergenin am Steuerknüppel einen Herzinfarkt bekommen haben, die Maschine UTI-MIG 15 begann zu trudeln, Gagarin dachte nicht daran, sich mit dem Schleudersitz zu retten, er versuchte vergeblich, sie abzufangen und ging so in den Tod. Am 30. März 1968 bekamen Gagarin und Sergenin in Moskau ein Staatsbegräbnis, die Urnen mit ihrer Asche wurden in der Kremlmauer beigesetzt.

„Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen“ – vor allem, wenn es einmal in der kommunistischen Sowjetunion gestrahlt hat. Doch Jurij Gagarin strahlt bis heute. Die Stadt Gschatsk in der Nähe von Gagarins Geburtsort, erhielt den Namen des ersten Menschen im Weltraum und trägt ihn bis heute, so wie die drei Dutzend Gagarin-Straßen in Ost-Deutschland, die man im Gegensatz zu vielen nach anderen kommunistischen Helden benannten Straßen und Plätzen nicht umbenannt hat. Es sollte am 12. April 2006 in ihnen Gedenkfeiern geben – zumal die größte Gagarin-Gedenkstätte außer Reichweite ist: Der „Gagarin-Krater“ auf dem Mond, 265 Kilometer Durchmesser, zwischen 20 Grad 12’ Süd und 149 Grad 12’ Ost gelegen.

Ende


Name des Autors Wolf Oschlies:


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