Deutsche Opfer – Tschechische Täter?
Janska (n-ost) - Es sind die Verben, die Vladimir Pesek stören. Diese Wörter, die sagen, was jemand tut. „Erschlagen“ ist so ein Wort. Oder „erschießen“. Schwarz auf weiß prangen sie auf dem Schild, das neben der KZ-Gedenkstätte in Janska (Jonsbach) steht, 15 Kilometer entfernt von Decin (Tetschen) in Nordböhmen. Unschöne Wörter sind das - und unschöne Taten. Vladimir Pesek will diese Wörter nicht lesen. „Das Schild verfälscht absichtlich unsere Geschichte“, sagt Pesek. Denn das Schild berichtet nicht nur von den mindestens 56 Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen, die hier zwischen 1942 und 1945 an Unterernährung, Krankheit und der schweren Arbeit gestorben sind. Es berichtet auch von den mindestens 93 deutschen Internierten, die hier nach Kriegsende erschlagen und erschossen wurden. „Durch diese konkrete Beschreibung erhält das Leid der Deutschen gegenüber dem der Nazi-Opfer viel zu viel Gewicht“, sagt Vladimir Pesek. Und eben deshalb hätte er gerne auf die Verben verzichtet.
Vladimir Pesek ist eigentlich keiner, der sich unangenehme Sachen vom Leibe hält. Im Gegenteil: Fast ein Jahrzehnt hat der 60jährige Gastronom dafür gekämpft, dass Janska sich endlich mit seiner Ortsgeschichte beschäftigt. Viel Unterstützung hat er dabei nicht erfahren. Aus eigener Kraft und mit eigenem Geld eröffneten er und seine Frau 2002 ein Museum über jene unterirdische Fabrik, in der die Nazis ab Herbst 1944 Flugzeugteile und vielleicht auch eine kriegsentscheidende Wunderwaffe bauen lassen wollten. An die 2000 Besucher sind seither jedes Jahr gekommen, um die Ausstellung in den feuchten Gängen zu besichtigen, die Zwangsarbeiter und Häftlinge aus dem KZ-Dachau in einen Sandsteinfelsen nahe der Ortschaft treiben mussten.
„Wir haben mehrfach erlebt wie Menschen, die hier früher gefangen waren, beim Besuch der Fabrik in Tränen ausbrachen“, sagt Vladimir Pesek, dessen eigene Mutter, eine Russin, zur Zwangsarbeit hierher verschleppt wurde. „Ich bin zwar nicht grundsätzlich dagegen, dass auch über die deutschen Opfer gesprochen wird“, fährt Pesek fort. „Aber es hätte auch gereicht, wenn auf dem Schild an der Gedenkstätte nur berichtet würde, dass dort eben über 90 Deutsche gestorben sind.“
Gezielte Tötungsabsicht
Erst KZ, dann Internierungslager für Deutsche - das Beispiel Janska ist in Tschechien kein Einzelfall: Allein in Nordböhmen gibt es mehrere Orte, an denen sich das deutsch-tschechische Drama des 20. Jahrhunderts auf diese Weise verdichtet. Die Frage, wie man mit diesen Orten umgehen, welcher Opfer man überhaupt, und wenn ja: auf welche Weise gedenken soll - diese Frage sorgt in Tschechien immer wieder für Auseinandersetzungen. Erst im Januar war ein heftiger Streit entbrannt, weil der christdemokratische Politiker Zdenek Barta bei einer Veranstaltung in Terezin (Theresienstadt) nicht nur an das „unaussprechliche Leid“ der im Ghetto Theresienstadt zusammengepferchten Juden erinnerte, sondern auch an das „unaussprechliche Leid der Deutschen“, die hier nach Kriegsende auf ihre Abschiebung warten mussten. Der „Geschichtsklitterung“ wurde Barta für diese Äußerung von Politiker-Kollegen geziehen. Dabei habe er ja nicht von einer Kollektivschuld „der Tschechen“ an „den Deutschen“ gesprochen, erklärte der Geschmähte. Er habe nur auf die Verbrechen der kommunistischen Lagerverwaltung hingewiesen.
In Janska wird die Rolle des „Nestbeschmutzers“ von Petr Joza gegeben. Der 36jährige Archivar aus dem Kreisarchiv in Decin hat nicht nur den Schild-Text an der Gedenkstätte formuliert, über den Vladimir Pesek jetzt so erbost ist. Er hat auch eine detaillierte historische Studie über das Geschehen in Janska veröffentlicht. „Die Formulierung auf dem Schild ist ganz bewusst so gewählt“, erklärt Joza, „weil es tatsächlich Unterschiede in der Art und Weise gab, wie die Menschen in Janska vor und nach dem Kriegsende ums Leben kamen.“ Zwar habe Janska unter dem Namen „Rabstein“ als Außenlager des KZ Flossenbürg genauso „funktioniert“ wie die KZ-Stammlager in Deutschland. „Aber es war kein Vernichtungslager. Die Häftlinge wurden als Arbeitssklaven eingesetzt“, sagt Joza. „Sobald die Inhaftierten nicht mehr arbeiten konnten, waren sie wertlos. Insofern bestand von Seiten der SS-Wachen keine gezielte Tötungsabsicht.“ Genau diese Absicht sieht Joza jedoch bei denen, die das Lager im Juni 1945 in ein Internierungslager für vermeintliche deutsche Kriegsverbrecher verwandelten. Wie viele andere Lager sollte auch Janska eigentlich dazu dienen, „Nazi-Verbrecher, Verräter und ihre Gehilfen“ (Benes-Dekret Nr. 16) festzusetzen und vor außerordentliche Volksgerichte zu stellen. Doch anstatt einer polizeilichen Untersuchung und eines Gerichtsprozesses erwarteten die Inhaftierten oft lediglich Schwerstarbeit und Misshandlungen.
„Von Juni 1945 bis Oktober 1946 sind in Janska beinahe doppelt so viele Menschen umgekommen wie während des Krieges“, sagt Petr Joza. „In der Gegend ergriffen nach Kriegsende diverse verbrecherische Banden das Kommando, die bereits bei der Verhaftung der angeblichen Verbrecher mit äußerster Brutalität zu Werke gingen - und dabei oft auch noch die Falschen erwischten.“ Echte Kriegsverbrecher, etwa aus den Reihen der SS, waren in den meisten Fällen schon vor Kriegsende geflohen, meint Joza. In Janska landeten deshalb vor allem einfache Mitglieder der NSDAP, der HJ oder der SA - die von den Wachen „zur Begrüßung“ nicht selten erst einmal bewusstlos geprügelt wurden.
Neben einer völlig unzureichenden Verpflegung und Zwangsarbeit waren es vor allem Folterverhöre, die den Alltag der Gefangenen prägten: Tagelang wurden manche Häftlinge unter Aufsicht eines deutschen „Kapos“ von tschechischen Wärtern in einem Kellerverlies bewusstlos geschlagen, wiederbelebt und erneut geprügelt. Unter Weinkrämpfen berichteten Augenzeugen später von den zertrümmerten Schädeln, heraushängenden Därmen und ausgelaufenen Augen mancher Folteropfer. „Die toten Gefangenen wurden am Waldrand verscharrt - wobei diese Beerdigungen selbst zu weiteren Morden genutzt wurden“, erzählt Petr Joza. „Mehrere Mithäftlinge mussten die Gräber ausheben, wurden dann weggejagt mit der Aussicht, sie könnten entkommen - und wurden dann mit minutenlangen Maschinengewehrsalven geradezu abgeschossen.“
Deutsche haben Leid gebracht
Dass das Kriegsende Janska keineswegs in das idyllische Örtchen zurückverwandelte, das es vor 1942 gewesen war, weiß auch Vladimir Pesek, der Museumsbesitzer. „Dass hier so viele Deutsche Gefangene ums Leben kamen, lag aber daran, dass sie sich psychisch nicht mit dem verlorenen Krieg abfinden konnten“, ist er überzeugt. Die schlimmen Verben, dabei bleibt er, haben auf der Tafel an der KZ-Gedenkstätte einfach nichts verloren. Denn selbst, wenn auch nur ein Fünkchen an dem dran wäre, was Petr Joza da in seiner Studie beschreibt - ändern würde das für Pesek nichts: „Die Deutschen haben den Krieg begonnen“, sagt er. „Und damit haben sie nicht nur anderen Nationen, sondern eben auch sich selbst viel Leid gebracht.“
*** Ende ***