Lukaschenko-Gegner enttäuschen ihre Anhänger
Minsk (n-ost) – Noch stehen etwa 15 Zelte auf dem Oktober-Platz im Zentrum von Minsk, noch harren hier permanent rund 100 junge Demonstranten aus, die ab dem späten Nachmittag von etwa Tausend Sympathisanten unterstützt werden. Doch drei Tage nach den Präsidentenwahlen in Weißrussland wird die Wut auf den autoritär regierenden Alexander Lukaschenko zunehmend vom Frust über das Unvermögen der Opposition abgelöst. „Journalisten aus aller Welt sind hier, sogar von Al Jazeera. Aber nichts passiert. Alles ist so schlecht organisiert gewesen, obwohl man sich sechs Monate lang auf diesen Tag vorbereiten konnte“, sagt eine enttäuschte Minsker Studentin. „Es ist eine Schande.“
Noch am Sonntagabend kurz nach Schließung der Wahllokale hatte auf dem Oktoberplatz eine große Menschenmenge gegen den Ausgang der Wahl demonstriert, in denen sich Staatschef Lukaschenko mit verdächtigen 82 Prozent der Stimmen zum Sieger erklärte. Sogar die Minsker Polizei spricht von 22.000 Menschen – dies wäre die größte Demonstration seit der Unabhängigkeit des Landes 1991.
Kurz vor den Wahlen hatte Lukaschenko gedroht, rücksichtslos gegen Demonstranten vorzugehen: „Wir werden ihnen das Genick brechen, wie einem Entenküken. Ich garantiere, dass es in unserem Land keinen Putsch geben wird.“ Rund um den Oktoberplatz blieben am Wahltag vorsorglich Theater und Cafes geschlossen. Am Abend fuhren Busse und U-Bahnen die Haltestelle Oktoberplatz nicht an. Viele Internet-News-Portale wurden gesperrt, dazu auch einige Straßen nach Minsk.
Offenbar hatten die führenden Oppositionspolitiker um den Spitzenkandidaten Alexander Milinkewitsch selbst nicht damit gerechnet, dass so viele Menschen ihre Angst überwinden und auf die Straße gehen würden. Organisatorische Schwächen wurden deutlich: Für die Demonstration musste eine Lautsprecheranlage erst mühsam herbeigeschafft werden.
Der Architekt Pawel Droschkin erzählt, dass seine weißrussischen Freunde, die in Russland und Polen arbeiten, extra nach Minsk geeilt sind, um an Demonstrationen teilzunehmen. „Wir haben bereits als Studenten vor fünf Jahren demonstriert“, sagt der 26-Jährige. Nun hätten sie extra Schlafsäcke mitgenommen und seien zu allem bereit gewesen. „Ich habe damit gerechnet, dass es Prügeleien mit der Polizei geben wird. Nicht erwartet habe ich, dass Milinkewitsch eineinhalb Stunden zu spät kommt und uns vorschlägt, die mitgebrachten Blumen abzulegen und nach Hause zu gehen.“ Es sei kalt gewesen und peinlich, ärgert sich Droschkin. „Viele meiner Freunde haben noch am selben Tag den Rückzug angetreten.“
Zum wachsenden Frust tragen auch offensichtliche Falschinformationen aus den Reihen der Opposition bei. So verbreitete das Milinkewitsch-Team, das unabhängige Moskauer Meinungsforschungsinstitut „Lewada“ habe in Nachwahlbefragungen - so genannten Exit-Polls - ein Stimmenverhältnis von 47 Prozent für Lukaschenko und 30 Prozent für Milinkewitsch ermittelt. Bei einem derartigen Ergebnis hätte es eine Stichwahl zwischen den führenden Kandidaten geben müssen. „Lewada“ ließ jedoch kurz darauf mitteilen, mangels Genehmigungen seien gar keine Nachwahlbefragungen durchgeführt worden. Milinkewitsch beteuerte daraufhin, die Umfrageergebnisse seien ihm zugeschickt worden, anschließend hätten russische Behörden plötzlich Druck auf das Zentrum ausgeübt.
Wie die Wahlen am vergangenen Sonntag tatsächlich ausgegangen sind, wird wohl nie mehr geklärt werden. Eine anonyme Nachwahlbefragung vor der Weißrussischen Botschaft in Berlin, die die Oppositionsgruppe „Belarusy in Berlin“ durchführte und an der sich 86 von 111 Wählern beteiligten, ergab ein Stimmenverhältnis von 72 Prozent für Milinkewitsch und 10,5 Prozent für Lukaschenko.
Im Laufe der gesamten Wahlkampagne wurden im ganzen Land rund tausend Oppositionelle verhaftet. Allein in den vergangenen drei Tagen seit dem Beginn der Proteste in Minsk wanderten rund 200 Anhänger von Oppositionsführer Milinkewitsch zumindest Zeitweise hinter Gitter, darunter die bekannte Studentenführerin Tatjana Khoma und der prominente Oppositionspolitiker Anatoli Lebedko, der inzwischen zu 15 Tagen Gefängnis verurteilt wurde. Auf dem Oktoberplatz in Minsk sind es vor allem Studenten, Mitglieder von Nichtregierungsorganisationen wie Subr (Wisent), die den Protest fortsetzen. Durch ihr Eintreten für Demokratie haben sie in den vergangenen Monaten vielfach ihren Studienplatz verloren und wenig mehr zu verlieren. Immer wieder bringen ihnen Passanten Tüten voller Essen, vorbei, doch der Protest bröckelt. Und weil die Gruppe klein ist, wächst stündlich die Furcht vor einem gewaltsamen Eingreifen der Polizei. „Lang lebe Weißrussland" rufen die Demonstranten auf dem großen Platz, der nachts in Dunkelheit liegt. Das Regime hat vorsorglich die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet.
Sergej Kolkin, ein 29-jähriger Ingenieur, hat während der großen Demonstration am Sonntag seiner Freundin einen Heiratsantrag gemacht. „Die Stimmung war ganz anders als sonst. Ich hatte einfach keine Angst mehr vor der Zukunft". Die Weißrussen seien an diesem Tag endlich von den Knien hochgekommen. Doch nun will Kolkin nicht länger auf dem Oktoberplatz bleiben. Man könne zwar den Geist der Freiheit spüren, doch eine Revolution werde es nicht geben, allenfalls eine Evolution. „Man sieht keinen echten Anführer unter den Anwesenden – weder Milinkewitsch noch Kosulin sind charismatisch, überzeugend und entschlossen genug für einen Aufstand".
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