Im Kalksteinhaus der estnischen Moderne
Tallinn/Reval (n-ost) - Im vornehmen Tallinner Stadtpark Kadriorg warnen Straßenschilder vor kreuzenden Eichhörnchen. Der Park, der auch die Präsidenten-Residenz beherbergt, bietet mit Schwanenteich und Zarenschloss nur wenige Straßenbahnhaltestellen vom quirligen Stadtzentrum der Hauptstadt entfernt Ruhe und Erholung. Doch seit wenigen Tagen muss der Präsident das Idyll mit der Kunst teilen: Fünfstöckig ragt nun das „KUMU“ hinter den alten Parkbäumen empor, das „Estnische Kunstmuseum“. Es vereint erstmals in der estnischen Geschichte die bedeutendste Kunstsammlung des Landes unter einem Dach. Darauf hat Estland fast 90 Jahre lang gewartet.
Die nach dem 1. Weltkrieg begründete Kollektion des „Estnischen Kunstmuseums“ vagabundierte quer durch Estland. Insgesamt rund 55.000 Stücke, darunter 7000 Gemälde, fast 25.000 Drucke und 1600 Skulpturen, waren bis zuletzt in diversen Ausstellungsräumen, Kirchen und Depots verteilt. Zwar kam gleich nach dem 1. Weltkrieg der Wunsch auf, der nationalen Kunstsammlung ein repräsentatives Gebäude zu errichten, doch vereitelten Krieg und Sowjetherrschaft die Pläne. Nach der Wende wurde die Idee neu ausgeschrieben und projektiert. Erst im vergangenen Februar wurde der Neubau mit 5000 Quadratmetern Ausstellungsfläche eingeweiht – ein nationales Großereignis in dem kleinen Land. KUMU-Direktorin Sirje Helme sagt: „In den 90er Jahren, als jedes kleine europäische Land ein Kunstmuseum schmückte, waren wir die letzten ohne eigenes Haus.“
Die Außenhaut des Neubaus aus patiniertem Kupferblech und mattem Glas erinnert stark an das Gebäude der Nordischen Botschaften in Berlin. Innen aber prägen Kalksteinflächen die Szenerie. Zwischen Verwaltungstrakt und Austellungsräumen schiebt sich ein sanft geschwungener, überbrückter Lichthof, der Sichtachse und Orientierungsort zugleich ist: „In vielen großen Museen kann man sich leicht verlieren“, erklärt der finnische Architekt Pekka Vapaavuori seine Leitidee.
Kunsthistorische Orientierungshilfe bietet auch die Ausstellung selbst. Sie führt von Portraits baltendeutscher Adeliger zu den Arbeiten estnischer Meister des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts, als sich die estnische Kunst unübersehbar eng an den (west-)europäischen Moden und Strömungen orientierte. Der zweite Teil der Ausstellung, der vom 2. Weltkrieg bis in die letzten Tage der Sowjetzeit reicht, überrascht durch einen hohen Anteil ausgestellter staatstragender Malereien („sozialistischer Realismus“) und sogar monumentalistische Stalin-Darstellungen. Ihnen stellten die Museumsmacher im gegenläufigen Flügel weniger angepasste und bisweilen subversive Arbeiten gegenüber.
Der offenherzige Umgang mit den linientreuen Kunstwerken ist deswegen überraschend, weil Estland nach der Wende im Bestreben, die Zugehörigkeit zu Europa zu unterstreichen, sowjetische Einflüsse ablehnte, die Sowjetzeit abtat wie einen schlechten Traum, der die Menschen und die Künstler nicht wirklich beeinflusst habe. Doch um die estnische Moderne wirklich zu verstehen, müsse man die Kunst eben doch vor dem Spiegel der Sowjetzeit sehen, sagt Direktorin Helme: „Wenn wir auch stets betonen, immer westlich gemalt zu haben, so stehen die sowjetischen Jahrzehnte doch wie eine Wand zwischen uns und den westlichen Kulturtraditionen.“
Derweil gelang Architekt Vapaavuori nebenbei die Rehabilitierung des landestypischen Baumaterials, des Kalksteins. Dessen Image hatte auf Grund seines nicht immer sachgemäßen Gebrauchs durch sowjetische Bauherren arg gelitten. Vielerorts bröckelten in den 90er Jahren Tallinner Kalksteinfassaden schlichtweg ab. Einige der größten Bausünden jener Zeit, darunter die massive Stadthalle (Linnahall), die sich wie ein Sperriegel zwischen Altstadt und Ostsee zieht, sind ganz und gar aus groben Kalksteinplatten gebaut. „Die nahmen jeden Stein, den sie kriegen konnten“, mutmaßt Vapaavuori.
Sein eigenes Team hingegen verwendete einzeln verlesene, kleinere Kalksteinstücke unterschiedlicher Schattierungen, fünf verschiedene Steinsorten aus ganz Estland, darunter aus dem Tallinner Erdreich selbst oder von der Insel Saaremaa (Ösel). Im Ergebnis sehen die steinernden Wände und Böden im Museumsinneren edel aus. Kalkstein wirkt anders als etwa Granit – er verleiht den Räumlichkeiten eine zwar nüchterne, aber nicht abweisende Atmosphäre.
Dass all das nun zwölf Jahre nach einem internationalen Architekturwettbewerb der Öffentlichkeit vorgeführt werden kann, verdankt Architekt Vapaavuori auch seinen finnischen Landsleuten, weil diese in den 90er Jahren die Amüsierviertel Tallinns eifrig frequentierten. Denn bald nach der Ausschreibung drohte das Projekt an der Finanzierung zu scheitern. Schließlich verfiel man auf die Idee, Steuern auf Alkohol, Glücksspiel und Zigaretten zu erhöhen, um so die Anschubfinanzierung des Museums zu sichern, kurz „Kasinosteuer“ genannt. Auch die Museumsleitung leerte so guten Gewissens manches zusätzliche Glas Rotwein.
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