Haager Tribunal: Warum starb der „geschützte Zeuge C-061“?
Alle 30 Minuten werden die Zellen des Gefängnisses im niederländischen Scheveningen kontrolliert, denn hier sitzen die ex-jugoslawischen Militärs und Politiker ein, die das Internationale Tribunal (ICTY) Den Haag schwerer Kriegsverbrechen verdächtigt oder deswegen bereits verurteilt hat. Am Sonntag, dem 5. März, ergab die Kontrolle um 18 Uhr keine besonderen Vorkommnisse. Eine halbe Stunde später wurde in einer Zelle des zweiten Stockwerks Milan Babic tot aufgefunden. Umgehend ordnete Fausto Pocar, italienischer Präsident des ICTY, eine „interne Untersuchung“ an, die sein Stellvertreter, der Australier Kevin Parker, leiten wird.
Babic ist nicht der erste Tote von Scheveningen: Bereits am 29. Juni 1998 hatte sich hier Slavko Dokmanovic umgebracht. Der ehemalige serbische Bürgermeister im ostslawonischen Vukovar, wo im Frühjahr 1991 die Balkankriege begannen, richtete sich selbst in dem Glauben „ohnehin bereits verurteilt zu sein“. Andere Verdächtigte legten bereits bei ihrer Festnahme Hand an sich oder starben im Gefängnis eines natürlichen Todes.
Alle diese Fälle sind im Grunde längst vergessen. Aber der jüngste Todesfall betrifft einen Hauptzeugen des Haager Tribunals. Milan Babic, Jahrgang 1956, hatte seit den frühen 1980er Jahren in Knin, der „Hauptstadt“ der mehrheitlich von Serben bewohnten kroatischen Krajina, als Zahnarzt praktiziert und schloss sich später der 1990 gegründeten Serbischen Demokratischen Partei (SDS) an. In dieser machte er rasch Karriere und stieg in der kurz darauf selbstproklamierten „Republik Serbische Krajina“ (RSS) bist zum Präsidenten auf. Dabei kam er ständig in Konflikt mit dem Belgrader Diktator Slobodan Milosevic, der auf Radikale wie Radovan Karadzic in Bosnien und Milan Martic in der RSS setzte. Diese bekamen dann auch die Oberhand, der von Milosevic gewollte und unterstützte Krieg brach in Kroatien und Bosnien mit aller Härte aus, bis er im Sommer 1995 durch massive US-Bombardements gegen serbische Stellungen beendet wurde. Am 4. August 1995 floh Babic, zum damaligen Zeitpunkt Premier der RSS und um eine letzte Friedenslösung bemüht, mit Ehefrau Dusanka, Sohn Stefan und Tochter Jelena nach Belgrad.
Babic hatte bereits im Dezember 2002, damals noch in Freiheit, gegen Milosevic ausgesagt und dabei ein Treffen vom Juli 1991 erwähnt, bei welchem der Belgrader Herrscher ihn aufforderte, „Radovan nicht im Wege zu stehen“, also Radovan Karadzic nicht zu behindern, wenn dieser ein „ethnisch reines“ Groß-Serbien unter Einschluss bosnischer und kroatischer Landesteile schaffen werde. Am 23. November 2003 hatte sich Babic dann dem ICTY freiwillig gestellt und war von diesem zu 13 Jahren Haft verurteilt worden. In verschiedenen Verfahren, unter anderem gegen Milosevic, diente er danach der Anklage als wichtiger Zeuge. Babics Verteidiger, der deutsche Rechtsanwalt Peter Müller, hatte schon im April 2004 die Befürchtung ausgesprochen, dass sein Mandant die neuerliche Begegnung mit seinen alten Gegnern nur schwer verkraften könne.
Babic verbüßte seine Strafe in einem fremden Land, das er nicht einmal seiner Familie nennen durfte. Dennoch kam er häufig in die Niederlande, um vor dem ICTY gegen seine einstigen Gefährten auszusagen. Anfänglich tat er das als „geschützter Zeuge C-061“, später gab er freiwillig seine Identität preis – was ihm unter den Gefangenen von Scheveningen den Ruf eines „Verräters“ und ständigen psychischen Druck einbrachte.
Nach Babics Tod rätseln Experten, welche Ängste bei ihm ausgeprägter waren – sein eigenes Schuldgefühl oder seine Angst von den Zellennachbarn. Verbürgt ist, dass er sich mehrfach beim Gefängnisdirektor beschwerte, er fühle sich bedroht, und häufig verlegt wurde, zuletzt in ein Gefängnis außerhalb von Scheveningen. Warum er jetzt wieder im Zentralgefängnis war und warum die ständige Videoüberwachung seiner Zelle nicht funktionierte, so dass er sich mit einem in Streifen gerissenen Tischtuch erhängen konnte – das sind einige der Fragen, die die jetzt anlaufende „interne Untersuchung“ klären muss.
Der Schaden, den Babics Ableben hinterlässt, ist irreparabel: Vor dem ICTY stehen wichtige Verhandlungen an – gegen den einstigen Geheimdienstchef Jovica Stanisic, gegen den ehemaligen Chef der Terroreinheit „Rote Barette“ Frank Simatovic, gegen den serbischen Radikalenführer Vojislav Seselj und weitere, wofür Babics Aussagen von hohem Wert gewesen wären. Vor dem Internationale Strafgericht ist ein Verfahren anhängig, in welchem Bosnien den Staatenbund Serbien und Montenegro (als Rechtsnachfolger Jugoslawiens) des „Genozids“ bezichtigt. Zu diesem Verfahren hätte Babic klärendes beitragen können, da er oft bei geheimen Treffen zugegen war, auf welchen Milosevic entsprechende Weisungen gab. Das ICTY wartet seit Jahren auf die Auslieferung mutmaßlicher Kriegsverbrecher wie Radovan Karadzic und Ratko Mladic, auch gegen sie wäre Babic ein wichtiger Zeuge gewesen.
Als dessen Tod im Gefängnis von Scheveningen bekannt wurde, hat die dortige Häftlingsprominenz erstmalig nicht mit Essschüsseln stundenlang an Zellengitter geklopft – was bei Todesfällen dort üblich ist. Milosevic und die anderen dürften vielmehr eine gewisse Erleichterung darüber spüren, dass dieser gefährliche Mitwisser nicht mehr lebt. Das ICTY aber wird sich fragen müssen, ob es genug für die physische und psychische Sicherheit eines wichtigen Zeugen getan hat.