Spektakulärer Kunstfund im Seniorenheim
Trzebiechów (Trebschen) (n-ost). Hausschuhe in kariertem Plüsch. Die Senioren des Wohnheimes Trzebiechów (Trebschen) haben sich wie jeden Vormittag in den weichen Sesseln der großen Halle postiert – mit freier Sicht auf die geschwungene Eingangstür. Doch in das verschlafene 200-Seelen Dorf bei Zielona Góra, etwa 85 Kilometer von der deutsch-polnischen Grenze, verlaufen sich nur selten Besucher.
Anders an diesem Samstag. Mit großen Augen beobachten die Senioren die Schar in elegantem Schwarz, die eigens aus Deutschland und ganz Polen angereist kommt, um das Inventar des Wohnheims zu bestaunen: chromglänzende Klinken, geschwungene Türbögen, Treppengeländer und Wandornamente. Doch gekommen sind sie vor allem wegen einer kunsthistorischen Sensation: 2002 waren in dem Seniorenheim per Zufall die Arbeiten des bekannten belgischen Malers, Architekten und Designers Henry van de Velde (1863-1957) entdeckt worden. „Nirgends sonst als hier sind so umfangreiche Wandgestaltungen van de Veldes zu finden“, bestätigt Barbara Bielinis-Kopec, oberste Denkmalschützerin der Wojewodschaft Lebuser Land. Acht verschiedene Motive der so genannten Schablonenmalerei hatten hier fast hundert Jahre unter mehreren Wandfarbschichten geschlummert.
Van den Velde gilt als einer der vielseitigsten Künstler des Jugendstils. Angeregt durch die Art and Crafts Bewegung in England, die den überfrachteten Historismus des 19. Jahrhundert ablehnte und eine schlichte, den realen Bedürfnissen angepasste Gestaltung von Häusern und Gebrauchsgegenständen forderte, widmete sich der Belgier vor allem der Architektur und der Gestaltung von Möbeln, Lampen und Stoffen und Schmuck. Dabei erhob er die Linie zum alleinigen Ausdrucksträger seiner Objekte. Van de Velde arbeitete in Deutschland vor allem an der Innenarchitektur der Villa Esche in Chemnitz, am Nietsche-Archiv in Weimar, in Hagen am Haus Hohenhof und in Gera an der Villa Schulenburg.
Als Entdecker des Kunstschatzes von Trzebiechów gilt Erwin Bockhorst-von der Bank. Der Leimener hatte in den Aufzeichnungen seines Großvaters Hinweise auf die Innendekorationen des belgischen Architekten gefunden. Der Großvater musste es wissen: Er war bis zur Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg Chefarzt in der einstigen Lungenheilstätte im ostbrandenburgischen Trebschen gewesen.
Die Fachwelt aber glaubte dem Kunstlaien nicht. Grund: Henry van de Velde selbst hatte weder in seinem Werkverzeichnis noch in seiner Biografie die Arbeiten im Auftrag der Fürstenfamilie Reuss erwähnt. Doch Bockhorn-van-de Velde ließ sich nicht beirren. Bestärkt durch seine Mutter Elisabeth (80), die selbst noch im Gebäude aufgewachsen war, ließ er nicht locker: Er überzeugte sowohl die Van de Velde-Gesellschaft in Magdeburg als auch die Stiftung Weimarer Klassik in Weimar, die das Werkverzeichnis des Belgiers betreut. Heute gilt das einstige Sanatorium in Trzebiechów als östlichster Punkt der europäischen Henry van de Velde-Route, die Architekturreisende auf seinen Spuren von Frankreich, über Belgien und Deutschland nach Polen führt.
Als erstes wurde vom Schablonenmalerei-Experten Dariusz Markowski von der Universität Torun (Thorn) das breite Deckenfries im Speisesaal und eine für van de Velde ungewöhnlich gemalte Bordüre entlang der Treppenstufen restauriert. Das einstige Billardzimmer folgte. Die dunkelbraune Wandfarbe und die entlanglaufende Schablonen-Bordüre in Olivgrün und Rot seien im van de Velde-Werk nahezu einzigartig: „In der Innengestaltung eines Sanatoriums konnte sich der Künstler deutlicher ausleben als in Auftragsarbeiten“, erklärt Dariusz Markowski und denkt dabei an die Villa Esch in Chemnitz und das Nietzsche-Archiv in Weimar, an denen van de Velde 1903 ebenfalls arbeitete. „Viele Elemente an Treppen, Türen und den Bordüren den Wänden in Trzebiechów ähneln denen in Chemnitz und Weimar“, sagt Dariusz Markowski. „Vielleicht wollte Henry van de Velde nicht, dass jemand merkt, dass er Elemente komplett übernimmt“, begründet Erwin Bockhorn-von der Bank das Fehlen des einstigen Sanatoriums im Werkverzeichnis. Eine genaue Antwort finde die Wissenschaft bis heute jedenfalls nicht.
Die Restauratoren wollen nun den gesamten Gebäudekomplex untersuchen, auch der ursprüngliche Garten um das Altersheim soll wieder in seinen Ursprung zurückversetzt werden. Bis jetzt hat die Wojewodschaft 100 000 Euro investiert. Bis zur geplanten Fertigstellung 2013 sollen noch einmal 500 000 Euro aus dem Europäischen Regionalfonds fließen. Der Antrag wurde bereits eingereicht, sagt der Landrat von Zielona Góra, Krzysztof Romankiewicz. Das einzige van de Velde-Objekt in Polen soll ab März Bestandteil einer grenzüberschreitenden Kulturvereinbarung zwischen dem Spree-Neiße-Kreis und dem polnischen Kreis Lubuskie (Lebus) sein.
Während die Kunstfans noch das Haus erkunden, hängt in der Luft der Duft von Kartoffeln. Trotz seiner Bedeutung soll das Haus nicht in ein Museum umgewandelt werden. „Der Unterhalt wäre zu teuer. Trzebiechów ist für viele Touristen zu abgelegen“, begründet der Landrat. Die Senioren kümmert das nicht. Sie haben sich aus den Sesseln gestemmt und schlurfen in Richtung Speisesaal. Mittagessen. Sie haben für heute genug gesehen. Am Nachmittag kehrt die Stille wieder ein.
Melanie Longerich
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