Bulgarien

Weg vom Bühnenrand Europas

Eine Bühne, zwei Tänzer, eine Tänzerin, bis über die Hüften in weite Tuchhosen gekleidet, wiederholen präzise, minimalistische Bewegungen. Dazu erklingen langsame schwere Töne. Die Gruppe „Kinesthetic Project“ probt ihr neuestes Stück „VOID“.  Sie ist eine der wenigen freien Tanzgruppen in Bulgarien. Die Tänzer Violeta Vitanova und Stanislav Genadiev gewannen 2007 mit dem Stück „Imago“ den bulgarischen „Ikar“ für das beste Debüt. Ihre Arbeit ist eher konzeptuell. Den Körper betrachten sie als Materie, sie erkunden die Kommunikation zwischen Körpern, ohne damit eine Geschichte erzählen zu wollen. Eine klare Abgrenzung zur ästhetischen Tradition, die in Bulgarien noch immer sehr präsent ist.

„In Bulgarien ist das klassische Ballett sehr stark“, sagt Violeta Vitanova. „Wir lernen immer noch nach dem alten, russischen System. Es gibt fast keinen zeitgenössischen Tanz in der Ausbildung.“ Ein altmodisches Verständnis von Tanz herrsche an den Instituten vor, meint auch Stanislav Genadiev. „Es existiert gar keine klare Vorstellung vom zeitgenössischen Tanz. Wenn die Studenten fertig sind mit ihrer Ausbildung und dann plötzlich sehen, was auf den europäischen Bühnen passiert, sind sie überhaupt nicht darauf vorbereitet.“

Der Staat nimmt seine Aufgabe als Kulturförderer kaum wahr

Wie viele andere Künstler haben auch Violeta und Stanislav nach dem Studium ihre Heimat verlassen, denn nur im Ausland fanden sie Entwicklungs- und Arbeitsmöglichkeiten. In Bulgarien sind staatliche Fördermittel für zeitgenössischen Tanz so gut wie nicht vorhanden. Subventioniert wird neben dem Opernballettensemble nur das „Arabesque Ballett“, ein Zwitterwesen zwischen modernem Ballett und zeitgenössischem Tanz. Die freie Szene ist klein.  

Tzvetelina Iossifova sitzt im Café von „The Red House“ in Sofia. Sie ist eine der beiden Gründerinnen des Zentrums für Kultur und Debatten. „Es gibt keine staatliche Politik für die freie Szene in Bulgarien“, erzählt sie. Nach der Wende wurde die Chance für Kulturreformen verpasst, und jetzt müssten sich die Freien um lächerliche Beträge aus dem staatlichen Fond bewerben – zusammen mit den staatlichen Kulturinstitutionen. Mitte der 1990er Jahre kamen die ersten freien Kulturinitiativen auf. „Das war der Moment, als das freie Individuum in der Kunst entstand“, erklärt Tzvetelina Iossifova. Unter ihnen Galina Borissova, Choreografin und Performerin, die mit ihren Arbeiten auch auf ausländischen Bühnen vertreten ist und bereits mehrere Preise gewann. Unterstützung fanden die freien Gruppen hauptsächlich bei ausländischen Kulturstiftungen wie dem Soros Centre for Arts, Pro Helvetia oder dem Goethe Institut. Trotzdem fehlt es immer noch am wichtigsten: angefangen bei Räumen zum Proben und für Aufführungen.

Bühne frei! Doch welche?

Das „Red House“ ist neben dem Theater Sfumato der einzige Ort, der den freien Kulturschaffenden offen steht. Deswegen gründete Tzvetelina Iossifova mit anderen Kulturinitiativen aus der Region 2001 die „Balkan Dance Platform“ - ein Festival, das Choreografen und Tänzer aus den Balkanländern zu neuen Produktionen anregen und gleichzeitig die Möglichkeit geben will, Stücke zu zeigen, sich zu vernetzen. „Antistatic“ ist der Name eines Festivals, das seit 2007 im Red House stattfindet. Bislang gedacht als Plattform für bulgarischen Tänzer und Performer, sollen in diesem Jahr auch internationale Künstler ins Programm aufgenommen werden. Doch all dies ist nicht genug, sagt die Kulturmanagerin. „Die Tänzer sind heute viel besser informiert, sie reisen, sie sind Teil einer internationalen Community. Aber in Bulgarien sind sie noch immer marginalisiert.“  

Brain Store Project (Foto: Elena Spasova)

Die Gruppe „Brain Store Project“ hat ihre eigene Antwort auf die prekären Zustände gefunden: Ihr neues Stück „Donna Klara“ haben sie gänzlich ohne fremde Mittel umgesetzt. Die Mitglieder der seit 2004 bestehenden Gruppe kommen aus unterschiedlichen Disziplinen. Die Spannbreite ihrer genreübergreifenden Arbeiten bewegt sich zwischen Design, Theater, Installationen und Performance. „Staatliche Förderung für zeitgenössischen Tanz zu bekommen, ist schon deswegen fast unmöglich, weil die dafür zuständigen Beamten gar nicht wissen, wovon wir sprechen. Sie verstehen unsere Bewerbung gar nicht“, erzählt Iva Sveshtarova. Seit dem Beitritt Bulgariens zur EU sei nun auch die Förderung vieler ausländischer Stiftungen weggefallen, fügt Willy Prager hinzu. Damit blieben nur die Kulturinstitute, ohne deren Hilfe in der freien Szene fast keine Kulturveranstaltung stattfindet. Am liebsten würde auch Iva Sveshtarova wieder auf und davon – um Luft zum Atmen zu haben, wie sie sagt. Denn die Hauptstadt ist ihr oft noch zu provinziell. „Das neue Stück von Jérôme Bel wird nicht in Bulgarien zu sehen sein. Bulgarien ist immer noch am Rande Europas.“ 

Neue Schritte

Dennoch – Iva Sveshtarova, Willy Prager, Violeta Vitanova, Stanislav Genadiev und einige ihrer Künstlerkollegen sind aus dem Ausland zurückgekehrt. Auch mit dem Willen, etwas zu verändern. Zusammen sind sie dabei, eine Künstlervereinigung für zeitgenössischen Tanz zu gründen, um sich bei den Behörden Gehör zu verschaffen. Um Bulgarien vom Rand ins Zentrum zu rücken. Um Kontinuität zu schaffen und die Kooperation mit ausländischen Künstlern zu etablieren. Der Zeitpunkt scheint günstig. Denn viele Bulgaren kommen nach ihrem Studium jetzt wieder zurück in die Heimat, und sie vermissen das Kulturangebot anderer europäischer Städte. Aber auch bei Tanzunerfahrenen kommt ihr Stück gut an, erzählt Stanislav Genadiev. „Nach unserer Performance sagen uns die Zuschauer manchmal: Das ist toll, was ihr macht. Wir wollen das auch. Gebt ihr Workshops? Wo kann man das lernen?“ Dafür müsse endlich eine neue Kulturpolitik her, meint Stanislav. Und das Image vom Tanz als elitärer, unverständlicher Kunstform muss verschwinden.

Einen kleinen Schritt in die Richtung hat die „Sofia Dance Week“ geleistet, hofft Asen Asenov. Er ist Herausgeber des Kulturmagazins „Edno“ und Organisator des Festivals, das im vergangenen September in Sofia stattgefunden hat. Es war das erste Ereignis dieser Art und Größenordnung, bei dem sich internationaler zeitgenössischer Tanz einem großen Publikum präsentiert hat. Die Vorstellungen waren voll, das Publikum begeistert. Asen Asenov stimmt nicht ein in den Chor, der nach mehr Geld verlangt. „Meiner Meinung nach liegt ein Grund, warum es so wenig unabhängige Gruppen gibt, auch darin, dass es in Bulgarien keine Ausbildung im Kulturmanagement gibt.“ Es fehle das Wissen und die Erfahrung, sich um Finanzmittel zu kümmern.

Brain Store Project (Foto: Elena Spasova)

Doch das Fehlen von etablierten und festgefahrenen Strukturen bietet auch Positives – da sind sich die meisten Kulturschaffenden einig. „Man hat hier in Bulgarien die Chance, Dinge zu tun, die noch niemand vorher gemacht hat“, sagt Iva Sveshtarova. „Das ist wirklich eine Herausforderung.“


Weitere Artikel