Mustergültige Minderheit
Im Süden der Republik Moldau liegt die autonome Region Gagausien (sprich: Gaga-usien). Die Gagausen haben ihre eigene Regierung und Verwaltung, eine eigene Universität und mit gagausisch ihre eigene Sprache. Der höchste politische Vertreter heißt „Baschkan“ und sitzt in der Hauptstadt Komrat. Der regierende Baschkan, Mihail Formuzal, spricht im Interview über die Geschichte, Kultur und den aktuellen Status Quo der Gagausen.
Es gibt 25 Thesen über den Ursprung der Gagausen. Die Palette reicht von orthodoxen Türken zu türkischsprachigen Bulgaren. Wer seid ihr wirklich?
Mihail Formuzal: Einst schrieb ein Dichter über uns: „Die Gagausen sind ein kleines, geheimnisvolles Volk.“ Er hat nicht Unrecht. Wir sprechen eine Turksprache, sind aber Christen. Laut Historiker sind wir weder Türken, noch Bulgaren, noch Griechen, sondern schlicht und einfach Gagausen. Unseren Ahnen, einem antiken Turkvolk, ist es zu verdanken, dass unsere wunderbare Sprache, reiche Kultur und einzigartige Tradition über Jahrhunderte erhalten blieben.
Gagausien ist bei uns ein unbeschriebenes Blatt. Erzählen Sie uns mehr über die Region.
Mihail Formuzal: In 26 Gemeinden, darunter vier Städten, leben insgesamt 155.000 Menschen. Mit 86 Prozent der Bevölkerung stellen die Gagausen die größte ethnische Gruppe. Bei uns leben aber auch Moldauer, Bulgaren, Russen, Ukrainer, Weißrussen, Polen. Vor über 200 Jahren holten uns russische Zaren zu günstigen Konditionen in die Steppe des Budschak. Bis zum heutigen Tag ist das Zusammenleben aller Völker hier von Toleranz und Harmonie geprägt. In all den Jahren gab es keine interethnischen Konflikte.
International gilt die friedliche Konfliktlösung in Gagausien als vorbildhaft. Wie sieht die Praxis aus?
Mihail Formuzal: Am 23. Dezember 1994 erlangten wir offiziell unseren autonomen Status. Ohne den Zusammenhalt aller Gagausen, die Unterstützung des damaligen türkischen Präsidenten Süleyman Demirel und das Wohlwollen des ehemaligen moldawischen Präsidenten Mircea Snegur wäre das nicht möglich gewesen. Snegur bekam daraufhin in Europa mehrere Auszeichnungen für diese friedliche Konfliktlösung. Der Autonomiestatus Gagausiens wurde in der Verfassung verankert, Gesetze wurden geändert. Aber bis heute sind diese Gesetze nicht in Kraft getreten.
Sie gewannen die Wahlen 2006 mit einem umfangreichen Wahlprogramm. Welche Vorhaben konnten bis jetzt in die Tat umgesetzt werden?
Mihail Formuzal: Unser Team hat die Wahlen mit dem Programm „11 Schritte für unsere Bevölkerung“ gewonnen. Das Programm wurde von der Bevölkerung selbst aufgestellt. Jeder Haushalt bekam im Vorfeld der Wahlen einen Fragebogen über die Bedürfnisse der Gagausen und darüber, mit welchen Strategien wir unsere Autonomie stärken können. Unser Programm ist erst abgeschlossen, wenn wir alle 11 Punkte umgesetzt haben. Immerhin ist es uns gelungen, unsere Schulden erheblich zu senken und einige Sozialprojekte zu starten. Wenn uns Chisinau die nötige Hilfe gewährleistet hätte, wären wir wohl eine Vorzeige-Autonomie. Das war aber nicht der Fall.
Ihre Sprache ist gagausisch, auf den Straßen hört man russisch, aber nicht einmal zehn Prozent der Gagausen sprechen die offizielle Staatssprache moldawisch. Alles deutet auf einen Sprachkonflikt hin.
Mihail Formuzal: In Gagausien gibt es per Gesetz drei offizielle Sprachen: gagausich, russisch, moldawisch. Wir Gagausen sind sehr tolerant. Es ist nicht wichtig, welche Sprache ein Mensch spricht, sondern was er sagt. In der Schule werden alle drei Sprachen unterrichtet. Soeben ist ein EU-Projekt gestartet, das Politikern und Managern ermöglicht, die Staatssprache zu erlernen. Das Problem mit der moldawischen Sprache ist leicht erklärt: Wir haben niemanden, mit dem wir regelmäßig sprechen können. Deshalb sind russisch und gagausisch unsere Alltagssprachen.
Die Vier-Parteien-Koalition „Für die europäische Integration“ hat nach acht Jahren Kommunismus in der Republik Moldau die Macht übernommen. Wie wird sich diese Entwicklung auf Gagausien auswirken?
Mihail Formuzal: Unsere Politik war in den letzten drei Jahren einzig und allein darauf ausgerichtet, im Interesse unserer Bevölkerung zu agieren. Dabei waren wir stets auf der Suche nach Freunden und nicht nach politischen Gegnern. Ich denke, dass die Zusammenarbeit mit der neuen Regierung viel leichter wird, als es mit den Kommunisten der Fall war. Es liegt absolut nicht in unserem Interesse, einen neuen Konflikt heraufzubeschwören. Es ist aber von höchster Priorität, dass wir von Chisinau nicht provoziert und unsere Anliegen nicht marginalisiert werden. Gagausien muss von der Ausarbeitung bis zur Umsetzung in alle politischen Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Es muss endlich auch gagausische Abgeordnete im Parlament geben. Das kommt in erster Linie der ganzen Republik Moldau zugute. Sollte all dies erneut nicht eintreten, werden wir nicht davor zurückschrecken, unser Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.
Betreiben sie eine EU-freundliche Politik?
Mihail Formuzal: Ein Teil der Bevölkerung ist der EU gegenüber positiv gestimmt, ein Teil ist neutral. Vor allem junge Menschen zeigen große Sympathien für Europa. Meiner Meinung nach hat die Republik Moldau die große Chance, die Schweiz Osteuropas zu werden.
Welche internationalen Kontakte pflegt Gagausien?
Mihail Formuzal: Wir unterhalten beste Beziehungen zur Türkei. Die Türkei hat uns in den letzten Jahren tatkräftig bei der Demokratisierung unserer Region unterstützt, ohne uns unter Druck zu setzen. 25 gagausische Studenten absolvieren ihr Auslandsjahr an türkischen Unis, 100 junge Türken studieren an unserer bestens ausgestatteten Komrat Devlet Universität. Unsere Ärzte besuchen Fortbildungsseminare in der Türkei. Nicht zu vergessen sind die zahlreichen Gagausen, die ihr täglich Brot in der Türkei verdienen und damit ihre Familien hier unterhalten.
Gagausien ist – wie auch der Rest der Republik Moldau – von einer Emigrationswelle betroffen. Was tun Sie, um die Menschen im Land zu halten?
Mihail Formuzal: Das wichtigste sind gut bezahlte Jobs. Eine Arbeit für einen Monatslohn von 500 Lei (knapp 30 Euro) zu finden ist einfach. Wo aber sind die Jobs, bei denen man akzeptable 3.000 bis 5.000 Lei (180 bis 300 Euro) verdient? Wir bieten potentiellen Investoren besonders günstige Konditionen, wie zum Beispiel fünf Jahre Steuerfreiheit, an. Es gibt zwei große Migrationsströme: Die männliche Bevölkerung zieht es nach Russland, wo sie bei großen Baufirmen arbeitet, junge Frauen gehen als Kindermädchen oder als Verkäuferinnen in die Türkei. Rund 30.000 Gagausen arbeiten im Ausland und sind nur über Neujahr bei ihren Familien. Da müssen wir gegensteuern.
Gagausien ist ein touristischer Geheimtipp: Sonne, Wein und eine einzigartige Gastfreundschaft. Ihre Region hätte doch ein enormes touristisches Potential.
Mihail Formuzal: Wir wissen, dass wir hier in Gagausien einiges zu bieten haben und dass viele Menschen Interesse haben, Land und Leute kennen zu lernen. Wir arbeiten gerade an einem touristischen Gesamtkonzept mit Weinstraße, Gagausien-Führer, Souvenirs und natürlich mehr Hotels. Unsere Hauptstadt Komrat bietet momentan nur Platz für 90 Gäste. Leider verfügen wir nicht über genügend finanzielle Ressourcen, um selbst in diesem Sektor zu investieren.
Sie sind dreifacher Familienvater. Bleibt noch genügend Zeit für das Privatleben?
Mihail Formuzal: Meine Woche ist militärisch organisiert. Ich starte täglich um 6 Uhr früh und arbeite bis Mitternacht. Jeden Samstag lade ich zum „Tag der offenen Tür“ in mein Büro, um mir die Anliegen der Gagausen persönlich anzuhören. Danach geht es zu den Managern der großen Firmen. Am Sonntag stelle ich meinen Wochenplan zusammen. Die Familie kommt sicher zu kurz, ist aber sehr nachsichtig mit mir. Einmal im Jahr geht es dafür zum gemeinsamen Urlaub nach Antalya.