Estland

Doppelt hübsch und erfolgreich

Tallinn/Hamburg (n-ost) - Manchmal passieren die besten Dinge im Leben einfach so, und das Resultat hört sich wie ein wahr gewordenes Märchen an. Ein modernes Märchen von zwei bildschönen Zwillingsschwestern aus einem kleinen Land hoch im Norden, die auszogen, die Welt zu erobern und dabei ein Tempo vorlegen, als hätten sie Sieben-Meilen-Stiefel an: Bereits mit 25 Jahren gründen die beiden ein Orchester. Die eine Schwester macht sich als Dirigentin in einer Männerdomäne einen Namen, die andere lockt als Managerin Sponsoren an. Und obwohl beide um die Welt tingeln und in Japan, Russland und Deutschland erfolgreich sind, bleiben sie bodenständig und ihrem kleinen Land verbunden.

Ein Sprung zurück ins wirkliche Leben: Mit durchgedrücktem Rücken beugt sich die estnische Dirigentin Anu Tali über einige Notenblätter, die vor ihr liegen. Nur noch wenige Stunden bis zu einem Gastkonzert mit dem Symphonieorchester des Norddeutschen Rundfunks in Hamburg. Schnell fährt sie mit dem Finger über die Noten und summt ein paar Passagen mit. Dann hebt sie ihren rechten Arm, der durch einen Dirigierstock verlängert wird, und fährt mit ausholenden Bewegungen durch die Luft, die blauen Augen hinter der Brille immer noch fest an die Noten geheftet. Derweil schafft es ihre Schwester Kadri, die neben Anu sitzt, scheinbar mühelos parallel zu telefonieren, eine E-Mail in den Laptop zu tippen und zwischendurch einen Stapel Papier zu durchwühlen. Ein dynamisches Duo aus dem neuen Europa.

„In Estland sind viele Dinge möglich, die im alten Europa so nicht stattfinden könnten“, sagt Anu. Nachdem der nordbaltische Staat 1991 nach fast einem halben Jahrhundert seine Unabhängigkeit wiedererlangt hat, sei das sowjetisch geprägte System komplett umgeworfen worden. „Wir waren halt zur richtigen Zeit da, konnten Dinge bewegen und das Beste aus beiden Zeiten mitnehmen“, resümiert die 33-Jährige und fügt dann, nach einer kurzen Denkpause hinzu: „Und dann sind die Dinge einfach so passiert.“

Anlässlich der Festlichkeiten zum 80. finnischen Unabhängigkeitstag vor acht Jahren stellten die damals 25-jährigen Schwestern ein Orchester aus estnischen und finnischen Musikern zusammen, das ein Konzert geben sollte. Doch was als einmalige Angelegenheit geplant war, entwickelte sich rasch zu mehr. „Wir bekamen Anfragen, weitere Konzerte zu geben, und auch den Musikern gefiel die Zusammenarbeit, also haben wir es weiterlaufen lassen. Es hat einfach nicht aufgehört zu existieren“, berichtet Kadri, die temperamentvollere und extrovertiertere der beiden Schwestern.

Mittlerweile vereinigt das „Nordic Symphony Orchestra“ Mitglieder aus 15 verschiedenen Nationen, die sich fünfmal im Jahr treffen, um „die estnische Musik in die Welt zu tragen und die Musik aus aller Welt nach Estland zu bringen“, so Kadri. Zwei Alben hat das Ensemble, das in den ersten Jahren noch unter dem Namen „Estnisch-Finnisches Sinfonieorchester“ firmierte, seither veröffentlicht. Swan Flight (2002) und „Action. Passion. Illusion“, welches Anfang 2005 bei Warner Classics herausgebracht wurde. Die Stücke spiegeln, laut Anu, „die nordische Seele“ wider: Werke von Rachmaninow, Sibelius, aber auch von estnischen Komponisten wie Veljo Tormis und Erkki-Sven Tüür.

Für ihr Debütalbum wurde Anu Tali 2003 in Deutschland mit dem Echo Classic Award als „Junge Künstlerin des Jahres“ geehrt. Seither wird sie hierzulande zunehmend beliebter. „Auch unser zweites Album hat in Deutschland viele Reaktionen hervorgerufen“, sagt Kadri, „und in dieser Saison gibt Anu in Deutschland und in Österreich so viele Gastauftritte wie noch nie“. Neben Hamburg, Berlin und München stehen Freiburg, Wuppertal, Konstanz, Salzburg und Graz auf dem Terminkalender der Dirigentin.

„Ich weiß, manchmal wirkt unser Leben wie ein Märchen, doch es steckt verdammt viel harte Arbeit dahinter“, betont Kadri. „Nichts an unserem Leben ist süß oder hübsch, wie es nach außen hin wirken mag.“ Das gilt auch für die Arbeitsteilung der Geschwister. „Wir sind die besten Freunde und die schlimmsten Feinde“, sagt Anu und Kadri fügt augenzwinkernd hinzu: „Manchmal fechten wir nahezu blutige Kämpfe aus.“ Dennoch funktioniert die Erfolgsmaschine Tali. Anu holt sich Inspirationen auf ihren Gastdirigentenreisen aus aller Welt und lässt sie in die Arbeit mit dem eigenen Orchester einfließen. Kadri zieht die Strippen im Hintergrund. Und das mit Erfolg: Das Nordic Symphonie Orchester wird ausschließlich aus privaten Mitteln und Sponsoren finanziert – fast schon ein kleines Wunder in einem Land, wo der monatliche Durchschnittsverdienst bei rund 500 Euro liegt.

„Wir waren zur richtigen Zeit da“, wiederholt Anu Tali, fast so, als wolle sie sich für ihren Erfolg entschuldigen. Ein Erfolg, der auch ihrem Land zugute kommt. „Wenn man aus einer kleinen Nation wie Estland kommt und durch die Welt reist, repräsentiert man sie automatisch, ob man möchte oder nicht“, sagt Anu. „Du bist dann halt Estland.“ So ist es nicht verwunderlich, dass auch die Regierung seine wohl hübschesten Botschafterinnen, die im eigenen Land bekannt sind wie bunte Hunde, gerne herbeizitiert, wenn wichtige Empfänge oder repräsentative Anlässe auf der Tagesordnung stehen. Doch die Zwillingsschwestern wären keine wahren Estinnen, wenn derartige Auftritte nicht auch aus dem Herzen kämen. „Unsere Heimat, unsere Geschichte, unsere Sprache und nicht zuletzt die estnische Musik ist mir sehr wichtig“, sagt Anu. „Ohne meine Heimat wäre ich nicht ich.“

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