„Die Angst ist in uns und sie ist stärker als wir“
Seit Montag laufen in Wien Verhandlungen über den zukünftigen Status des Kosovo. Dabei sitzen erstmals Delegationen von Serben und Kosovo-Albanern gemeinsam am Verhandlungstisch. Das Kosovo ist eine Provinz, die völkerrechtlich immer noch zu Serbien gehört, in der aber nur noch fünf Prozent der Bevölkerung Serben sind. Die Kosovo-Albaner streben nach Unabhängigkeit. Wie die Lage vor Ort derzeit aussieht und wie weit der Weg zum Frieden noch ist, schildert die Reportage von Julien Laignez aus der Kleinstadt Rahovec/Orahovac.
Noch ist es Winter in der Kleinstadt im Südwesten des Kosovo, die bei den Albanern Rahovec und bei den Serben Orahovac heißt. Der 23-jährige Rodoljub wohnt nur 200 Meter vom Stadtkern entfernt. Doch seit 1999 war er nur drei- oder viermal dort. Damals hat die UNMIK (United Nations Mission in Kosovo) die Verwaltung der Provinz Kosovo übernommen. Rodoljub ist nie zu Fuß ins Zentrum gegangen, er fuhr immer nur im Auto irgendeiner Nichtregierungsorganisation (NGO). Der Grund: Er ist Serbe. Noch immer muss Rodoljub über einen alten Witz lachen: „Gehst du heute Abend aus? Ich hätte schon Lust. Aber irgendwas hindert mich dran. Reden wir morgen darüber“.
In Rahovec waren die Serben immer schon in der Minderheit. Heute ist ihre Gemeinde bis zur Unbedeutsamkeit geschrumpft. Von den 22.000 Einwohnern der Stadt sind 500 Serben. Vor dem Krieg waren es noch 2.000. Im Kosovo leben heute insgesamt zwei Millionen Menschen: 90 Prozent Albaner und 5 Prozent Serben, was einer Gesamtzahl von 100 000 Personen entspricht.
Die Schnauze voll von Politik
Rahovec liegt in einer Senke inmitten von Weinbergen; die Region ist für ihren Wein bekannt. Das Stadtzentrum beschränkt sich auf eine Hauptstraße. Diese wird von Rohbauten flankiert, die wie Pilze aus dem Boden sprießen. Das serbische Viertel mit seinen abfallenden Straßen und den Altbauten liegt am Berghang. Es herrscht drückende Ruhe. Zwischen beiden Stadtteilen erstreckt sich ein Niemandsland, das als Grenze dient. Vom unteren Teil des serbischen Viertels stehen nur noch ausgebrannte Ruinen. Rodoljub schaut gern von der Anhöhe auf die Stadt, von oben eröffnet sich ihm ein unverstellter Ausblick auf Orahovac und auf die Erinnerungen seiner Jugend: „Hier meine Schule Vuk Karadzic, die heute einen albanischen Namen trägt, dort unten der große Fußballplatz, wo wir alle zusammen gespielt haben. Wir waren ein Team, das von Orahovac.“
Im unteren Teil der Stadt, wo die Albaner wohnen, herrscht eine ganz andere Stimmung. Man sieht Boutiquen, Straßenverkäufer, zahlreiche Cafés und einen zentralen Platz am Fuße der großen Moschee, die nach dem Kosovo-Krieg erbaut wurde. „Wir möchten der Welt zeigen, dass hier das Leben tobt“, sagt der 20-jährige Burgin. Dafür steht seine Leidenschaft, der Rap. Mit den anderen Mitgliedern seiner Band träumt er davon, eine CD aufzunehmen. Kommt man auf die Wohnbedingungen der Serben im Ort zu sprechen, fallen einem Burgin und seine Freunde energisch ins Wort: Sie würden, sagen sie, die Politik hassen.
Keine Arbeit, keine Perspektiven
Doch es gibt bei den Jugendlichen in Rahovec auch das Bewusstsein einer gemeinsamen Vergangenheit. Denn die meisten von ihnen sprechen Serbisch, oder besser gesagt „Rahovecki“, eine Mischung aus Serbisch, Albanisch, Türkisch, Mazedonisch und vielen eigenen Ausdrücken - eine Sprache, die einzig und allein in der Stadt Rahovec/Orahovac gesprochen wird. „Wir sprechen diesen Dialekt, weil wir alle zusammen gelebt haben“ erinnert Nihad, ein anderer Hip-Hopper der Gruppe, „aber nach allem, was passiert ist, ist es nicht leicht, zu verzeihen.“ Ein anderes Bandmitglied wirft auf Englisch ein: „Serbs are so little“. Das stößt bei seinen Freunden auf ungeteilte Zustimmung.
Ramadan Salja ist Geschichtslehrer und Direktor an einer Schule im Ortskern von Rahovec. Seiner Meinung nach ist das Malheur sozialer Natur. „Den Jugendlichen ist alles gleichgültig, weil es hier keine Arbeit gibt, keine Perspektiven. Sie sind so mit der eigenen Unsicherheit beschäftigt, dass für das Unglück anderer keine Zeit bleibt. Und für das der Serben schon gar nicht.“ Trotzdem hält der Lehrer kategorisch fest: „Wir müssen wieder miteinander leben, auch wenn die Serben immer noch nicht begriffen haben, dass sie heute nur noch eine Minderheit sind. Sie dürfen nicht mehr auf Belgrad schauen, sondern müssen voll und ganz Bürger des Kosovo werden.“ Dies sei notwendige Bedingung, um ein „multiethnisches Kosovo mit gleichen Rechten für Albaner und Serben aufzubauen. Aber das alles hängt vom guten Willen der Serben ab.“
Elektrisierte Atmosphäre
Kaela Venuto, Direktorin von „Schüler Helfen Leben“ ist überzeugt, dass der Versöhnungsprozess von den Jugendlichen ausgehen muss. Trotzdem sah sich die deutsche NGO gezwungen, zwei getrennte Jugendhäuser zu bauen, eines im albanischen Teil der Stadt und ein anderes im Serbenviertel. Nichtsdestotrotz organisieren sie jedes Jahr eine Winterfreizeit mit serbischen und albanischen Jugendlichen. Diesen Januar haben etwa zwanzig Serben, Albaner und Roma eine Woche miteinander verbracht. Ziel ist es, die Beziehungen, die auf der Skipiste entstehen, dauerhaft werden zu lassen.
„Letzte Woche“, erklärt Kaela Venuto, „haben drei serbische Mädchen zu Fuß ihre albanischen Freundinnen besucht. So etwas ist neu in Rahovec.“ Nächstes Wochenende treffen sich die Teilnehmer in einer der drei Bars im serbischen Viertel. Vorher müssen ihre Eltern noch an einer Diashow mit Bildern von der Bergfreizeit teilnehmen. Auch stehen gemischte Computerkurse auf dem Programm.
Sieben Jahre nach dem Ende des Krieges bilden Initiativen wie diese immer noch die Ausnahme. Trotz der Eröffnung der Verhandlungen zum Status des Kosovo unter der Führung des ehemaligen finnischen Präsidenten, Martti Ahtisaari, scheint die Lage aussichtsloser denn je. Im Laufe der Zeit sind die Serben in eine Resignation verfallen, die die lokalen Sicherheitskräfte beunruhigt. Der Lokaljournalist Zvezdan Moravcevic glaubt, dass diese Resignation Stück für Stück in absolute Passivität übergegangen ist. „Ich brauche die Unterstützung aller Bürger, damit meine Internetseite über das Alltagsleben in Orahovac mit Leben gefüllt wird, aber es macht niemand mit. Ich bin im Grunde der einzige Freiwillige“, erzählt er bedrückt.
Rodoljub gibt vor, sich mit der Situation abgefunden zu haben und sagt, er hätte nicht das Bedürfnis, in den albanischen Teil der Stadt zu gehen. „Ernsthaft, was soll ich auch dort unten? Das Problem ist, dass ich dort niemanden kenne und auch keine albanischen Freunde habe. Die Angst ist in uns, und sie ist stärker als wir“, bekräftigt der Student. Sein Nachbar Nenad schätzt, dass es heute in Orahovac zwischen Serben und Albaner nur noch eine einzige Gemeinsamkeit gibt: die elektrischen Leitungen. „Jeden Tag fällt der Strom bei ihnen genauso regelmäßig aus wie bei uns. Auch daran haben wir uns gewöhnt.