Bosnien-Herzegowina

„Wir sollten über diese Verletzungen reden“

Sarajewo (n-ost) – Der Jubel im Klub „Obala Meeting Point“ in Sarajewo kannte keine Grenzen, als die Präsidentin der Berlinale-Jury, Charlotte Rampling, die Preisträger der diesjährigen Berlinale bekannt gab. Wie beim Finale einer Fußball-Weltmeisterschaft hatte sich die Crew des bosnisch-herzegowinischen Beitrags „Grbavcia“ und unzählige Filmfreunde vor dem Grossbildschirm des Klubs versammelt, um dabei zu sein, wenn das Unmögliche möglich wird – der Goldene Bär für Jasmila Zbanics „Grbavica“. Der bekannte bosnisch-herzegowinische Schauspieler Emir Hadzihafizbegovic ließ seiner Freude freien Lauf und rief: „Das ist mehr als ein Preis, das ist ein Sieg für ganz Bosnien und Herzegowina!“

„Grbavica“ ist Jasmila Zbanics erster Spielfilm überhaupt. Noch kurz vor der Eröffnung der Filmfestspiele antwortete die 32-jährige Regisseurin auf die Frage, was es für sie bedeuten würde, den Goldenen Bären zu gewinnen: „Wenn ich ehrlich bin, ich wünsche mir den Goldenen Bären nicht. Das wäre eine Last für mich. Ich habe doch noch so viel zu lernen. Aber ich bin froh, in Berlin dabei zu sein, weil es so vielleicht etwas einfacher wird, meinen zweiten Spielfilm zu drehen.“

Jetzt hat Jasmila Zbanic mit ihrem Spielfilmdebüt „Grbavica“ eben diesen Goldenen Bären gewonnen. Im Film geht es um das Schicksal einer im Bosnien-Krieg vergewaltigten Frau, die dabei schwanger und von ihren Peinigern gezwungen wurde, ihr Kind zur Welt zu bringen. Alle während des Krieges im belagerten Sarajewo Eingeschlossenen seien auf einer symbolischen Ebene vergewaltigt worden, sagt Jasmila Zbanic. Unser Korrespondent Norbert Rütsche sprach in Sarajewo mit der Regisseurin ausführlich über ihr Filmprojekt:

Frage: Frau Zbanic, wo waren Sieselbst während des Krieges? Und wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Jasmila Zbanic: Ich war in Sarajewo. Es ist schwierig, über diese Erfahrungen zu sprechen. Der Film schildert irgendwie auch meine Erlebnisse. Ich wurde zwar während des Krieges nicht vergewaltigt. Aber auf einer symbolischen Ebene wurden wir in Sarajewo alle vergewaltigt. Das Eingeschlossen-Sein, die Unmöglichkeit, die Stadt zu verlassen, der andauernde Granatbeschuss, Scharfschützen. Ich kann es nicht in Worte fassen, was ich erlebt habe. Wahrscheinlich haben wir alle, die wir in Sarajewo lebten, eine Art von Trauma und Stress, die noch immer in uns sind.

Frage: Lernten Sie selbst Frauen kennen, die vergewaltigt wurden?

Jasmila Zbanic: 1992 kamen in Sarajewo mehrere Busse mit Frauen aus Ostbosnien an – sie alle waren über Tage und Monate vergewaltigt worden. In Sarajewo brachte man sie in meine Grundschule in der Nähe meines Hauses. Mädchen von 14, 15, 17 Jahren – wie ich. Ich war total geschockt über die Tatsache, dass Sex als Waffe benutzt wurde. Als Teenager denkt man immer, Sex sei etwas Wunderbares, und dann musst du erfahren, dass Sex eingesetzt wird als Waffe, um Frauen zu demütigen, um dadurch die ganze Nation zu demütigen.

Frage: Wann und warum entschieden Sie sich, einen Spielfilm über dieses Thema zu machen?

Jasmila Zbanic: Seit diesen Erlebnissen von 1992 hatte ich vor, etwas zu machen. Zuerst wollte ich Dokumentarfilme drehen, aber dann wurde mir bewusst, dass ich diese Frauen mit der Bitte, vor der Kamera zu sprechen, erneut verletzten würde. Im Jahr 2000 kam meine Tochter zur Welt – ich entwickelte Gefühle, die ich nie zuvor hatte. Mein Kind ist aus Liebe zwischen mir und meinem Ehemann entstanden. Ich fragte mich, wie es wohl ist, wenn jemand ein Baby hat, das aus Hass entstanden ist. Würde eine solche Mutter jemals derartige Gefühle haben können? So entschied ich mich für eine fiktive Geschichte über eine solche Mutter, über ihre Gefühle, mit diesem Kind zu leben und über die Schwierigkeit, die Wahrheit zu sagen – oder sie zu verbergen. Das war in etwa die Welt, die ich untersuchen wollte, als ich mit dem Drehbuch begann.

Frage: Daraus entstand Ihr erster Spielfilm. Warum heißt er „Grbavica“?

Jasmila Zbanic: Grbavica ist ein Stadtteil von Sarajewo. Esma, die Hauptfigur meines Films, kommt aus diesem im Krieg von bosnisch-serbischen Truppen besetzten Stadtteil. Der ganze Film spielt in Sarajewo, vor allem in Grbavica. Während des Krieges wurden hier viele Frauen in verschiedenen Arten von Gefängnissen – zum Beispiel in Supermärkten, manchmal auch in Wohnungen – festgehalten und vergewaltigt; sie waren oft über Monate eingesperrt, bis ihre Schwangerschaft so weit fortgeschritten war, dass sie nicht mehr abtreiben konnten. Dann wurden diese schwangeren Frauen ausgetauscht gegen serbische Soldaten. Wie viele Kinder auf diese Weise geboren wurden, weiß aber niemand.

Frage: Sind die Vergewaltigungen im Krieg in Bosnien und Herzegowina ein Tabu-Thema?

Jasmila Zbanic: Nein. Die Mehrheit der im Krieg vergewaltigten Frauen sind Musliminnen, viele von ihnen traditionell und religiös. So war es sehr positiv, dass der Reis (Anm.: höchster geistlicher Würdenträger der Muslime in Bosnien und Herzegowina) nach den Massenvergewaltigungen verkündete, dass im Krieg vergewaltigte Frauen als „Sehids“ zu betrachten seien. Als „Sehids“ wurden ansonsten Kämpfer bezeichnet, die den Märtyrertod starben. So waren die Frauen wenigstens auf dieser offiziellen Ebene akzeptiert und wurden nicht verurteilt. Oftmals wurden sie von ihren Vätern und Familien verstoßen, weil sich diese schämten. Viele Frauen sprachen nicht darüber, was geschah. Sie hatten Angst vor ihrer eigenen Familie.

Frage: Zurück zu Ihrem Film. Was wollen Sie damit bewirken? Was ist die Botschaft des Films?

Jasmila Zbanic: Es geht mir nicht darum, irgendeine Botschaft zu vermitteln. Für mich ist es wichtig, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer eineinhalb Stunden das Leben von Esma mitleben. Wenn sie diese Erfahrung gemacht haben, werden sie im Krieg vergewaltigte Frauen besser verstehen – und vielleicht auch sich selbst.

Frage: Was glauben Sie, was wird „Grbavica“ in Bosnien und Herzegowina auslösen, wo der Film Anfang März in die Kinos kommt?

Jasmila Zbanic: Für unsere ganze Crew war das Drehen des Films eine Art Katharsis. Meine Hauptdarstellerin ist aus Belgrad, mein Hauptdarsteller aus Zagreb, ich aus Sarajewo – was überhaupt keine kalkulierte Absicht war. Diese Produktion hatte für uns alle etwas Befreiendes, denn einiges, was wir über den Krieg, der uns alle sehr verletzte, sagen wollten, ist nun ausgesprochen. Wir fühlen uns heute viel besser. Wenn dieses Katharsis-Gefühl auch auf das Publikum überspringt, wenigstens auf eine Person, wäre ich mehr als glücklich. Denn wir sollten wirklich über diese Verletzungen reden, es nicht unterdrücken, sonst wird alles irgendwann wieder hochkommen in einer vielleicht gefährlichen Weise.

Frage: Warum fällt es Ihrem Heimatland Bosnien und Herzegowina so schwer, die Kriegsvergangenheit hinter sich zu lassen?

Jasmila Zbanic: Sehen Sie, die Kriegsverbrecher Radovan Karadzic und Ratko Mladic sind noch immer nicht verhaftet. Sie, die hauptverantwortlich sind für den Tod von 100’000 Menschen, für die Vergewaltigung von 20’000 Frauen und die Vertreibung von einer Million Menschen – sie sind frei im Europa des 21. Jahrhunderts. Dies bedeutet doch nichts anderes, als dass man all das tun kann, ohne dafür wirklich bestraft zu werden. Erst wenn Radovan Karadzic und Ratko Mladic gefasst und zu lebenslanger Haft verurteilt sind und wenn Slobodan Milosevic für den Rest seines Lebens im Gefängnis sitzt – erst dann können wir wirklich nach vorne schauen.

Frage: Filme aus dem ehemaligen Jugoslawien, die international Beachtung finden, handeln häufig vom Krieg. Ist auch das bosnisch-herzegowinische Filmschaffen dazu „verdammt“, stets den Krieg zu thematisieren?

Jasmila Zbanic: Die Filme, die Sie ansprechen und die an internationalen Festivals gezeigt werden, sind Autorenfilme, nicht jene der kommerziellen Filmindustrie. Diese Autoren sind natürlich geprägt vom Krieg. Auch wenn es nicht direkt um den Krieg geht, spielen Erfahrungen, die auf dem Krieg basieren, eine große Rolle. Alle meine Filme thematisieren das heutige Leben. Ich mache keine Fantasy- oder Science-Fiction-Filme. Ich spreche über den Alltag, in dem die Kriegsfolgen noch immer existent sind. Man nimmt sie aber nicht direkt wahr. Die meisten Gebäude sind wiederaufgebaut, die Menschen gehen aus, sie sind schön angezogen. Auch in Gesprächen wird der Krieg kaum erwähnt. Ich kann mich nicht erinnern, wann wir das letzte Mal im Freundeskreis über ein Ereignis aus dem Krieg sprachen. Aber gewisse Verhaltensweisen meiner Freunde und von mir sind bestimmt von dem, was im Krieg geschah. Zum Beispiel dass man ängstlich oder verunsichert ist oder sich nicht getraut, laut zu sprechen. Das alles ist versteckt, sehr sensitiv, aber es erklärt viele Handlungen, viele Entscheidungen im Leben, in der Arbeit.

Frage: Wie sind die Bedingungen für das Filmschaffen in Bosnien und Herzegowina?

Jasmila Zbanic: Vor drei Jahren – wir hatten keine Filmkameras, kein Filmlabor, kein Geld, nichts – kam ich nach Berlin, um Produzenten zu finden, was zum Glück gelang. Gemeinsam schafften wir es, „Grbavica“ zu drehen. Dass dies möglich ist in einem Land wie Bosnien und Herzegowina, in dem es nichts gibt, das ist ein großer Erfolg. Weil wir weder Ausrüstung noch Geld haben, müssen wir fast alles in Zusammenarbeit mit dem Ausland machen. Das hat aber den Vorteil, dass wir in unseren Filmen Geschichten erzählen, die man nicht nur hier in der Region versteht.
Positiv ist zudem folgendes: Nachdem der bosnische Regisseur Danis Tanovic 2002 einen Oscar für „No Man’s Land“ bekommen hatte, dachten sich unsere Politiker sofort: Der Film ist ein gutes Mittel, um international für Bosnien und Herzegowina zu werben und richteten einen Filmfond ein. Das Budget für „Grbavica“ betrug über 900'000 Euro, die Regierung (Föderation) finanzierte mit dem Fond immerhin zehn Prozent. Leider fehlen uns in Bosnien und Herzegowina sehr viele Fachleute. Als Regisseurin braucht man gute Set-Designer, Make-up-Spezialisten, Kostüm-Designer usw. Zuerst war der Krieg, danach gab es kein Geld für Filme – 15 Jahre fast ohne Filmschaffen bewirkte, dass diese Fachleute verschwanden. Sie gingen ins Ausland oder wechselten den Beruf, junge Leute hatten keine Chance, beim Film zu arbeiten. So wuchs auch keine neue Generation von Fachleuten heran, was die Situation sehr schwierig macht. Aber ich arbeite gerne in Bosnien und Herzegowina, denn hier sind meine Geschichten, hier ist meine Welt.

*** ENDE ***


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