Polens Koloss der Wälder muss wandern lernen
Bialowieza (n-ost) - In den Wäldern von Bialowieza im Nordosten Polens ist es bitterkalt. Bei eisigen Temperaturen schart sich ein kleiner Trupp Wisente um eine mit Heu, Hafer und Rüben bestückte Futterstelle. Unter der dicken Schneedecke Nahrung zu finden, ist für die Zotteltiere ein mühseliges Unterfangen. Deshalb nutzen die bis zu zwei Meter großen und eine Tonne schweren Kolosse gern das Angebot des Menschen.
Rund 400 Wisente streifen heute durch die verwunschenen, von Menschenhand nahezu unberührten Laub- und Mischwälder in der Region Podlasien an der Grenze Polens zu Weissrussland – so viele wie seit 70 Jahren nicht mehr. Rund 3 500 Wisente gibt es weltweit, etwa ein Viertel davon in Polen. Ihre Vorfahren stammen aus Zoos und Tiergärten. Nur dort überlebten einige der urtümlichen Wildrinder, nachdem Jäger den letzten freien polnischen Wisent 1919 in Bialowieza erlegt hatten. Im Jahr 1952 wurden gezüchtete Wisente erstmals wieder im Nationalpark Bialowieza ausgesetzt.
Mehr als fünfzig Jahre später droht die Vergangenheit die Tiere wieder einzuholen. Da der Genpool der heutigen Population auf lediglich sieben Wisenten basiert, die Anfang des 19. Jahrhunderts in Zuchtbetrieben überlebten, nimmt die Gefahr einer genetischen Inzucht mit möglichen Fruchtbarkeitsstörungen von Generation zu Generation zu. „Viele Wisente sind nicht ausreichend resistent gegen Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Brucellose oder Balanoposthitis, eine Entzündung des männlichen Geschlechtorgans, sagt Rafal Kowalczyk, Wisent-Experte des in Bialowieza ansässigen Instituts für Säugetierforschung der Polnischen Wissenschaftsakademie (MRIPAS).
Die polnischen Wissenschaftler befürchten, dass die Ausbreitung der Infekte durch die traditionelle Winterfütterung beschleunigt werden könnte. Um den Wisenten das Überleben in freier Wildbahn zu erleichtern, wird in Polen schon seit Jahrhunderten zugefüttert; auch im Nationalpark Bialowieza lassen die Behörden jeden Winter Futter streuen. Fällt dann im November der erste Schnee, suchen die Wisente bis in den März hinein instinktiv Futterstellen auf. Bis zu 120 Tiere drängeln sich manchmal an einer Stelle – zum Ärger von Kowalczyk und seinen Forscherkollegen. „Viele Tiere stehen über einen längeren Zeitraum auf engem Raum zusammen. Dadurch können Parasiten und Krankheiten schneller übertragen werden“, sagt Kowalczyk. Außerdem bedeute dies Stress für die Wisente, viele reagierten aggressiv.
Abhilfe schaffen soll das bis 2010 laufende Europäische Wisent Programm des Instituts für Säugetierforschung. Ziel des 1,5 Millionen Euro teuren Projekts ist, die genetische Vielfalt der ostpolnischen Wisente zu erhöhen. Zu diesem Zweck wollen die Wissenschaftler den Lebensraum der Wisente vergrößern und bislang voneinander isolierte Herden an der polnischen Ostgrenze vereinigen. So soll die in Bialowieza lebende Wisentpopulation mit einem rund 45 Tiere großen Bestand verbunden werden, der im 40 Kilometer entfernten Urwald von Knyszyn beheimatet ist. Um die Tiere aus dem Schutzgebiet zu locken, haben die Forscher ein Verbundsystem aus Wäldern, Flusstälern und Baumgruppen festgelegt. Dieser ökologische Korridor soll den Tieren die Wanderschaft erleichtern. „Dafür kaufen wir Flächen und machen daraus Wiesen oder Wälder. Zudem legen wir Wasserreservoirs und einzelne Futterplätze an, damit die Wisente ausreichend zu trinken und im Winter zu fressen haben“, berichtet Krzysztof Niedzialkowski, Koordinator des Wisentprojekts am MRIPAS.
Auch die waldreichen Gegenden südlich von Bialowieza, in denen der Wisent bislang nicht vorkommt, werden für die Großsäuger attraktiver gemacht. Eintönige Kieferwälder werden ausgelichtet; die Ökologen lassen stattdessen heimische Laubhölzer wie Ahorn, Linde, Esche oder Eiche pflanzen.
Gleichzeitig wird im Nationalpark Bialowieza die Anzahl der Futterstellen für die Riesen der polnischen Wälder reduziert. Die Wisente sollen damit der menschlichen Nahrungszugabe entwöhnt. Experten wie Wolfgang Fremuth von der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt am Main, die das Wisent-Projekt mit 160.000 Euro unterstützt, klagen schon lange, dass in dem 10.000 Hektar großen Nationalpark zu viele Wisente leben. „Im Park ist nur Platz für 250 Tiere“, sagt er. Obwohl jährlich 30 zumeist kränkliche und alte Tiere geschossen oder gefangen werden, grasen dort nach neuesten Zählungen jedoch 350 Tiere.
Um die Wisentpopulationen in Ostpolen langfristig zu stabilisieren, sind nach den Kalkulationen der Forscher 500 Tiere notwendig. Alternativen zu dem Migrationsprojekt sehen die polnischen Wissenschaftler in Bialowieza derzeit nicht. Dabei läge eine Lösung für den Nationalstolz Polens, der auch Zierde mancher Bier- und Wodkamarke ist, zumindest räumlich eigentlich sehr nahe. Auf weißrussischer Seite des Urwalds von Bialowieza streifen 250 Wisente durchs Unterholz. Allerdings trennt die beiden Populationen ein unüberwindbarer Zaun und an eine Öffnung mag angesichts der starren politischen Verhältnisse in Weißrussland niemand glauben.
Parallel dazu hat sich auch das polnische Umweltministerium Gedanken zum Überleben des Wisents gemacht. Den ministeriellen Plänen zufolge sollen die Wisentbestände in Podlasien mit einer Herde in Masuren vereint werden. Inmitten der masurischen Seenplatte leben im Urwald von Borecka 60 Tiere von der Öffentlichkeit nahezu unbehelligt. Von den beiden Populationen an der polnischen Ostgrenze ist diese allerdings durch zahlreiche Straßen und eine Distanz von mehr als zweihundert Kilometern getrennt. Rafal Kowalczyk hält die Idee aus Warschau deshalb nicht für sehr realistisch: „Wir sollten uns freuen, wenn wir den Populationen in Bialowieza und Knyszyn wieder neues Leben einhauchen können.“
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