Bosnien-Herzegowina

„Die Wahrheit muss ans Licht kommen“

Sarajewo (n-ost) – Am 1. Februar tritt der ehemalige deutsche Postminister Christian Schwarz-Schilling das Amt des Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina an. Er wird damit zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten auf dem Balkan. Schwarz-Schilling findet ein Land vor, in dem die Wunden des vor zehn Jahren beendeten Krieges noch lange nicht verheilt sind. Wie groß die Aufgabe ist, die vor dem 75-Jährigen liegt, und wie schwer es ist, Schuld zu sühnen und den Opfern des Krieges Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, zeigt die Geschichte des Dorfes Grabovica 30 Kilometer nördlich von Mostar.

Vor dem Krieg lebten in Grabovica etwa 200 Menschen, ausschließlich bosnische Kroaten. Heute sind die 60 Häuser des Dorfes fast alle zerstört, die Gärten verwildert. Es ist still – ein Geisterdorf. Am 8. und 9. September 1993 wurden in Grabovica 33 unbewaffnete Frauen, Männer und Kinder umgebracht. Das älteste Opfer, Marko Marić, war 87 Jahre alt. Mladenka Zadro, gerade erst vier geworden, klammerte sich an ihre Mutter, als beide von einem Soldaten der bosnisch-moslemischen Regierungstruppen erschossen wurden. Bei den Häusern, auf den Wegen, entlang des Flusses Neretva – überall lagen Tote. Auch im Wasser trieben leblose Körper. Die Soldaten bekamen die Anweisung, die Ermordeten zu verbrennen oder zu verscharren, einige wurden mit Lastwagen weggebracht.

Diesen Ablauf der Ereignisse beschreibt die Anklageschrift, die Carla del Ponte, die Chefanklägerin am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien mit Sitz in Den Haag, vorgelegt hatte. Die Schweizerin macht darin Sefer Halilović, einen ehemaligen General der von Bosniaken (bosnischen Muslimen) dominierten Regierungstruppen, für das Massaker verantwortlich. Als Vorgesetzter der entsprechenden Einheiten hätte er die Gräueltaten verhindern und die Täter bestrafen müssen. Die Haager Richter sahen dies anders und sprachen Halilović im November 2005 aus Mangel an Beweisen frei. An den verübten Verbrechen an sich ließen sie aber keine Zweifel.

Für den 31-jährigen Josip Drežnjak, dessen Eltern in Grabovica umgebracht wurden, ist der Freispruch von Den Haag noch heute unfassbar. „Wir hatten große Hoffnungen mit dem internationalen Tribunal verbunden. Aber jetzt... Wir vertrauen niemandem mehr. Der Prozess hätte besser gar nie stattgefunden.“ Drežnjak ist Präsident der Opfervereinigung „Grabovica 93“. Er ist überzeugt, dass das Massaker in Grabovica von der Führung der bosnischen Armee in Sarajewo gezielt geplant worden war. Sein Nachbar Ante Marić (46) ist der Ansicht, dass Grabovica als kroatisches Dorf an dieser Stelle „gestört hat und deswegen ausradiert werden sollte“. Die sterblichen Überreste seiner ermordeten Mutter und Schwester konnte er bis heute nicht finden. Insgesamt wurden den Angehörigen nur elf Leichen übergeben. Mit „Grabovica 93“ wollen Drežnjak und Marić zum einen erreichen, dass die „Wahrheit über das Verbrechen ans Licht kommt und das Schicksal der 22 Vermissten geklärt wird“. Zum anderen kämpfen sie dafür, wieder in Grabovica leben zu können. Die meisten Mitglieder der Vereinigung wohnen und arbeiten heute in Mostar, mehrere identifizierte Opfer des Massakers sind dort beerdigt. Aber die Grabovicer wollen zurück – mitsamt ihren Toten.

Im Krieg brannten alle Häuser im Dorf aus oder wurden bis auf die letzte Steckdose geplündert. Dank der Unterstützung einer dänischen Hilfsorganisation sind mittlerweile zehn Gebäude wieder einigermaßen bewohnbar, auch jene von Drežnjak und Marić. In jeder freien Minute sind sie hier, um weiter an ihren Häusern zu arbeiten. Ansonsten sind nur Ruinen zu sehen, den Besitzern fehlt das Geld zum Wiederaufbau, weitere Hilfe ist nicht in Sicht. Auf dem kleinen Friedhof steht eine neue Kapelle, aber die Platten sämtlicher Gräber sind zertrümmert. „Diese älteren Knochen wurden mit jenen der beim Massaker Ermordeten vermischt, um die Spuren zu verwischen“, sagt Ante Marić.

Bleibt das Verbrechen von Grabovica auf ewig ungesühnt? Nein – wenn es nach dem Willen von Carla del Ponte geht. Matias Hellman, Sprecher der bosnisch-herzegowinischen Außenstelle des Haager Tribunals, bestätigte einen Bericht der Sarajewoer Tageszeitung Oslobodjenje, dass die Schweizerin Berufung gegen den Freispruch Halilovićs eingelegt habe.

Während in Srebrenica im Juli 1995 unter dem Kommando des bosnisch-serbischen Generals Ratko Mladić etwa 7800 bosniakische Männer und Knaben umgebracht wurden, waren in Grabovica mutmaßlich bosniakische Soldaten verantwortlich für den Tod von 33 bosnischen Kroaten. Dass es während des Krieges in Bosnien und Herzegowina auf allen Seiten Opfer und Täter gab, ist unbestritten. Aber die Auseinandersetzung darüber, wie viele Menschen zwischen 1992 und 1995 ums Leben kamen und welche Volksgruppe am meisten gelitten hat, ist auch zehn Jahre nach Unterzeichung des Friedensabkommens von Dayton allgegenwärtig. Während ausländische Schätzungen bislang meist von über 200.000 Getöteten ausgegangen waren, konnten sich Bosniaken, bosnische Serben und Kroaten nicht auf eine Zahl verständigen. Je nach Sichtweise sei von 10.000 bis 350.000 Kriegsopfern die Rede, erklärte Mirsad Tokača, Leiter des unabhängigen Forschungs- und Dokumentationszentrums IDC in Sarajewo.

Das IDC kam nun in einer fast abgeschlossenen Untersuchung zum Schluss, dass im Krieg wohl deutlich weniger Menschen ums Leben kamen als bisher allgemein angenommen. Die Opferliste des IDC enthielt Ende 2005 die Namen von 94.399 getöteten Zivilisten und Soldaten. Viele der Umgekommenen, so Tokača, seien in mehr als einer Liste aufgeführt gewesen – zum Beispiel als ziviles Opfer und als gefallener Soldat. Bislang seien diese Zahlen meist einfach zusammengerechnet worden. Laut IDC sind rund 67 Prozent der Opfer Bosniaken, 26 Prozent bosnische Serben, 5 Prozent bosnische Kroaten und 1 Prozent Angehörige anderer Volksgruppen. Tokača rechnet bei diesem Verhältnis nur noch mit Abweichungen von maximal drei Prozent. Die IDC-Untersuchung wird hauptsächlich mit Geldern des norwegischen Außenministeriums finanziert. Von bosnisch-herzegowinischen Regierungsstellen gab es keine Unterstützung für die Studie.
Nach Schätzungen der Statistik-Agentur von Bosnien und Herzegowina lebten im Jahr 2003 rund 3,8 Millionen Menschen im Land. 1991 waren es gemäß der letzten offiziellen Volkszählung noch 4,4 Millionen: 44 Prozent Bosniaken, 31 Prozent bosnische Serben, 17 Prozent bosnische Kroaten und 8 Prozent Angehörige anderer Nationalitäten.


KASTENTEXT 1 oder weiterer Absatz:

Viele Kriegsverbrechen sind noch immer nicht aufgeklärt

Von Norbert Rütsche

Grabovica ist nur ein Beispiel für zahlreiche Kriegsverbrechen an Zivilisten in Bosnien und Herzegowina, für die die Verantwortlichen bis heute nicht verurteilt wurden. Schon seit Jahren fordern die „Mütter von Srebrenica“ an friedlichen Protestversammlungen Monat für Monat die immer wieder angekündigte Verhaftung der des Genozids angeklagten mutmaßlichen serbischen Kriegsverbrecher Radovan Karadžić und Ratko Mladić sowie die Aufklärung des Schicksals der 5500 noch immer vermissten Opfer des Srebrenica-Massakers. Nach der Eroberung der UN-Schutzzone durch Einheiten der bosnischen Serben im Juli 1995 wurden etwa 7800 bosniakische Männer und Knaben umgebracht. Nach Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz fehlt seit dem Krieg in Bosnien und Herzegowina von insgesamt über 14.000 Personen bis heute jede Spur.


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