Lettland

Barrikaden für die Freiheit


Riga (n-ost)- Sonntagnacht fallen die ersten Schüsse. Rund 40 Männer in grünen Tarnanzügen und mit schwarzen Baretten auf dem Kopf stürmen das Innenministerium in der lettischen Hauptstadt Riga. Leuchtspurmunition fliegt durch die Luft, Maschinengewehre rattern. Aus dem Inneren des Gebäudes wird zurück geschossen. „Ich hatte mich vom Leben verabschiedet“, erzählt der damals 35-Jährige Renars Zalais, der zusammen mit nur sieben weiteren Milizen das Innenministerium verteidigte. „Ich wurde von einer Kugel am Bauch gestreift.“ Von der Verletzung habe er nichts gespürt, sagt er, die Schmerzen seien erst später gekommen.



Als am 20. Januar Spezialeinheiten des sowjetischen Innenministeriums Riga angreifen, ist dies der Höhepunkt eines bereits monatelang dauernden Freiheitskampfes der kleinen Baltenrepublik. Am 4. Mai 1990 hatte sie sich für unabhängig erklärt, seither terrorisiert die sowjetische Spezialeinheit OMON die lettische Bevölkerung. Auch viele Russen sind unter den Freiheitskämpfern und haben bei den freien Parlamentswahlen für die Unabhängigkeitsbewegung, die Volksfront, gestimmt.



Bereits in der Nacht auf den 13. Januar hatten sowjetische Panzer der OMON im benachbarten Litauen den Fernsehturm gestürmt und dabei 13 unbewaffnete Zivilisten getötet. Schon am Morgen danach organisieren sich hunderttausende lettische Bürger. Aus allen Ecken und Winkeln des Landes strömen sie in ihre Hauptstadt, um die Volksfront-Regierung gegen Terrorangriffe der OMON zu verteidigen. Romualdas Razukas, damaliger Vorsitzender der Volksfront, ruft die Menschen auf, Barrikaden zu errichten. 700.000 haben sich in Riga zu einer Demonstration versammelt. Ein rot-weißes Meer verbotener Nationalflaggen erstreckt sich entlang des Ufers der Daugava. Über den Köpfen der Menschen rattert ein Helikopter. Besonders die Radiostation und der Fernsehturm seien zu schützen, mahnt Razukas. Vor dem Innenministerium und dem Parlament sollen Wachen postiert werden.



Tagelang schaffen eine halbe Million Entschlossene Baumstämme, Traktoren und Lastwagen herbei und verbarrikadieren die Altstadt. In den engen Gassen ziehen sie in Windeseile Mauern hoch und türmen Holz- und Metallteile auf. Den Eingang der Radioanstalt mauern sie zu und sichern ihn mit Stacheldraht. Lautsprecher stehen auf den Fensterbänken und dröhnen durch die Straßen. Nachrichten und die Pressegespräche aus dem Parlament werden übertragen. Die Abgeordneten übernachten im Gebäude.



Der Dom ist zum Lazarett umfunktioniert: OP-Bestecke liegen am Rande des Taufbeckens, Bänke dienen als Krankenlager. Schwestern und Ärzte verfolgen die Nachrichten auf dem Fernseher über den heiligen Grabstätten. Draußen auf dem Domplatz brennen Lagerfeuer, mobile Feldküchen sind unterwegs. Frauen verteilen heißen Tee aus Thermoskannen, schmieren Brote und kochen Suppe. „Jeder hat gegeben, was er hatte. Niemand dachte ans Geld. Die Bürger von Riga boten Schlafplätze in ihren Wohnungen an und stellten ihre Toiletten zur Verfügung“, erinnert sich Zalais.



Liene Karpovica lebt zu dieser Zeit mit ihrer Familie in Bauska, etwa eine Autostunde von Riga entfernt. Als die Barrikaden in Riga beginnen, ist sie gerade zehn Jahre alt. „Mein Vater entschied sich, auch nach Riga zu gehen. Meine Mutter und ich blieben in Bauska, und so konnten wir uns nur aus dem Fernsehen und dem Radio informieren“, erinnert sie sich heute. Tag und Nacht hätten sie vor dem Fernseher verbracht. „Für mich als Kind eine sehr beängstigende Zeit, weil ich nicht wusste, was mit meinem Vater ist – Handys gab es damals ja noch nicht“.



Heute arbeitet sie in der Touristinformation im Zentrum von Riga. Sie gehört zu der Generation, die am meisten vom Umsturz in der ehemaligen Sowjetrepublik profitierte. Während sich die älteren Menschen teilweise nur schwer an das neue System anpassen konnten, repräsentiert Karpovica das neue Lettland: Jung, gebildet und aufgeschlossen.

Am 20. Januar, als die Moskauer Spezialtruppen angreifen, ist dies alles noch Zukunftsmusik. Der Kreml weiß: Spalten sich Lettland und die anderen baltischen Staaten von der Union ab, wäre dies das Aus. Eine brisante Lage für Präsident Michail Gorbatschow, der sich mit den Militäraktionen von Vilnius und Riga offen gegen seine eigene Entspannungspolitik der „Perestroika“ stellt.



Trotz der politischen Bedeutung der Kämpfe von Riga ist die Weltöffentlichkeit abgelenkt: Der Überfall auf die lettische Hauptstadt findet fast zeitgleich mit dem Beginn des ersten Irak-Krieges statt, die Aufmerksamkeit der Welt ist auf Kuwait gerichtet. Konflikte zwischen der Sowjetunion und ihren Mitgliedsstaaten interessieren da nur am Rande.



Dennoch verfolgen rund 1.500 Journalisten die Geschehnisse in der lettischen Hauptstadt, unter ihnen auch der lettische Fernsehjournalist Andris Slapins. Während er ein Opfer der Schießerei filmt, trifft auch ihn eine russische Kugel tödlich. „Filmt weiter“, befiehlt er seinen Kollegen noch. Sie filmen seinen eigenen Tod, es sind die erschreckendsten Bilder dieser Tage. Sein Kameramann Gvido Zvaigzne stirbt einige Tage später an seinen Verletzungen. Insgesamt sterben in dieser Nacht fünf Menschen.



Der Untergang der Sowjetunion wird in Riga besiegelt. Zwar sind die lettischen Milizen hoffnungslos unterlegen, aber nach vier Stunden Kampf ziehen sich die sowjetischen Militärs plötzlich zurück. „Warum genau, wissen wir bis heute nicht“, sagt Miliz Zalais, „wahrscheinlich wusste Gorbatschow, dass es sonst zu einem riesigen Massaker gekommen wäre“. So sicherten die Barrikaden von Riga Lettland die Unabhängigkeit, die im Sommer 1991 auch offiziell von der Sowjetunion anerkannt wurde. Nur wenige Monate später zerfiel die Sowjetunion endgültig.



Renars Zalais ist mit dem Schrecken davon gekommen. Er hat ein Museum in der Altstadt von Riga eingerichtet, dass an die Zeit der Barrikaden erinnert. Mit den anderen sieben Milizen, mit denen er 1991 gemeinsam das Innenministerium verteidigte, ist er noch heute befreundet. Sie treffen sich mindestens einmal im Jahr – immer am 20. Januar.

„Meine Arbeit im Museum bringt es mit sich, dass ich mich ständig mit dem Thema befasse“, sagt er. So hat er seinen Weg gefunden, die Erinnerungen an den Tag zu verarbeiten, an dem er fast sein Leben gelassen hätte. „In Gedanken sitze ich noch heute jeden Tag auf den Barrikaden“.



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