Der Blutsonntag von Vilnius
Vilnius (n-ost) – Im Januar 1991 wollte die Sowjetunion die abtrünnige Baltenrepublik Litauen zwingen, ihre Unabhängigkeitserklärung zurückzunehmen. Zehntausende stellten sich unbewaffnet sowjetischen Panzern entgegen. 15 Menschen starben, aber der Sturm auf das Parlament konnte verhindert werden. Es war der Anfang vom Ende der Sowjetunion.
Puppen unter Panzerketten. Das ist das Bild, das Gitana in Erinnerung blieb von den dramatischen Ereignissen in Vilnius im Januar vor 15 Jahren, die letzte Hürde für das Baltikum auf dem Weg zur Freiheit. „Ich war auf dem Weg zum Bahnhof, um zum Studium nach Deutschland zu fahren. Ganz in der Nähe meiner Wohnung hatte einer der sowjetischen Panzer, die aus den Kasernen in der Nähe in die Innenstadt rollten, einen Spielzeuglaster gerammt“, erzählt die damals 18-Jährige.
Die Panzer sollten den Freiheitsdrang der Balten brechen. Sowjetische Spezialeinheiten nahmen die Medienzentren ein, rückten gegen das Parlament vor. Dort verschanzten sich die Abgeordneten um Parlamentspräsident Vytautas Landsbergis, der in der international noch nicht anerkannten Republik Litauen die Rolle des Staatsoberhauptes innehatte. Völlig überraschend machten die Panzer in letzter Minute kehrt. Der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow hatte den Litauern ein Ultimatum gestellt; sie sollten ihre ein Jahr zuvor ausgerufene Unabhängigkeit zurückziehen. Fallschirmjäger waren nach Vilnius verlegt worden.
Eine von Moskau verhängte Wirtschaftsblockade trieb die Preise in dem von Rohstoffen abhängigen Litauen hoch, KGB-Provokateure schürten die Unzufriedenheit darüber. Als sich der Sturm auf das Parlament abzeichnete, bat Landsbergis im Fernsehen seine Landsleute um Schutz. 30.000 kamen und verdrängten die vom KGB bestellten Demonstranten. Tausende Litauer bewachten Tag und Nacht das Parlament, um einen neuen Angriff zu verhindern – notfalls, schworen sie, auch mit ihrem Leben. Im tief katholischen Litauen war ein Priester zur Stelle, der ihnen sicherheitshalber die Beichte abnahm.
Gitanas Mutter lebt weit entfernt von der Hauptstadt auf dem Land, in einem kleinen Häuschen im Wald. Die Panzer waren weit weg. Doch sie verbrachte, erzählt sie heute, die Nacht auf den Knien vor dem Fernseher. Sie, die wie viele Litauer unter Stalin Jahre in Sibirien verbracht hatte, betete für ihr Land.
Zu dem befürchteten Blutvergießen kam es nicht am Parlament, sondern am Fernsehturm. In dichten Reihen standen Menschen untergehakt um das Sendezentrum des Fernsehens. Panzer schossen über die Menge hinweg. Soldaten warfen Sprengstoff, schlugen mit Gewehrkolben und Eisenstäben auf die Unbewaffneten ein, schossen schließlich aus Maschinengewehren in die Menge. Eingeprägt hat sich Gitana das Bild der Fernsehsprecherin, die mit angstgeweiteten Augen lange die Stellung hielt, Sätze sagte wie „jetzt trommeln sie an die Tür“. Dann brach die Übertragung ab, danach ging ein sowjetisches auf Sendung. Aus einem Notstudio im Parlament gelang es Landsbergis jedoch, erneut seine Landsleute um Hilfe zu bitten. 150 000 scharten sich um das Gebäude, errichteten provisorische Panzersperren. Es ist ihr Verdienst, das der Sturm auf das Parlament ausblieb.
Es dauerte, bis der Westen trotz seiner Verehrung für den Glasnost-Helden Gorbatschow die Vorgänge wahrnahm und darüber berichtete. Der beginnende erste Golf-Krieg gegen Irak dominierte die Nachrichten. Der damalige Präsident der Russischen Republik, Boris Jelzin, verurteilte die Aktion der sowjetischen Führung. Es gab Kundgebungen für das freie Litauen in der Sowjetunion, Solidaritätsadressen aus dem Westen. „Gorbi“ war nicht mehr unantastbar, die UdSSR am Ende. Knapp ein Jahr später beschlossen die letzten drei in der Union verbliebenen Republiken Russland, Weißrussland und Ukraine die Auflösung der Union. Am 1.1.1992 war die Sowjetunion und ihre letzter Präsident, Michail Gorbatschow, nur noch Geschichte.
Die Litauer hatten den Anfang gemacht und zahlten bitter dafür. 15 Menschen kamen im Januar 1991 ums Leben, durch Schussverletzungen oder Ketten der Panzer. 174 Verletzte gab es offiziell, tatsächlich könnten es bis zu 600 gewesen sein; viele wagten sich aus Angst vor der Rache Moskaus nicht in die staatlichen Krankenhäuser.
Der entscheidende Tag, der 13. Januar 1991, ist heute litauischer Nationalfeiertag. Es gibt Konzerte, Gottesdienste, Reden und eine Live-Übertragung aus dem Parlament wie während der Belagerung durch die Panzer. 15 Jahre nach dem „Blutsonntag von Vilnius“ brennen die ganze Nacht lang Feuer in der Stadt, an denen sich die Menschen wärmen können, die wie damals singend auf dem Platz vor dem Parlament, am Fernsehturm, vor dem Rathaus ausharren. Die „singende Revolution“ haben Nostalgiker den Wandel im Baltikum getauft, weil dieser Ende der 80er Jahre mit Folklorefesten begann. Es ist kein hohler Staatsakt in der immer noch jungen Republik: „Die Leute werden da hingehen“, sagt Gitana, „die Erinnerung lebt.“
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