Polen

My zdies' emigranty

HERBST 1988

Mabillon. Mittagessen für Studenten. Die appetitlichste Metrostation. Auf Rolltreppen langsam nach oben, und dann schön langsam in der Schlange vorrücken und aufs Tablett aufladen: Salate, Seinewasser aus der Leitung, in einer eleganten Karaffe serviert, Desserts und noch einmal Desserts, bis der Koch mit der riesigen weißen Mütze mit der Kelle auf mein Tablett zeigt:

»Mademoiselle, qu'est-ce que c'est?«
Klar hatte ich zu viel genommen, aber wie kann man sich zwischen Schokoladen- und Bananendessert entscheiden. Nein, ich werde nichts zurückgeben.
»You are wrong, Monsieur.«
»Pourquoi?«
»I’m madame, no mademoiselle.«

Und ich wedelte vor seinen Augen mit dem Trauring. Er lächelte, aber der Schlagbaum der Kelle fiel schon auf ein anderes Tablett. So ein Mittagessen kostet 10 Francs, wert ist es wohl noch weniger. Hinter dem Fenster weht die französische Fahne, würde eine solche Fahne für 10 Francs wehen? Aber ich soll für diese zehn Francs nicht nur gehen, sondern auch noch denken. Wenigstens darüber nachdenken, warum ich vor einigen Wochen nicht deutsche Spätaussiedlerin geworden bin. Meine Papiere sind, wie bei jedem vom linken Weichselufer, in Ordnung – irgendein Opa oder Onkel in der Wehrmacht. Als Dokument, das das Deutschtum bestätigt, genügt sogar ein vor dem 8. Mai 1945 ausgestellter Impfpass. In Westberlin gibt es ein Büro mit Wehrmachtskarteien, und nachdem die Papiere auf ihre Echtheit überprüft worden sind, wird man als Aussiedler anerkannt: Man kriegt Beihilfe, eine Wohnung etc.

Als ich über mein Deutschtum nachdachte, erinnerte ich mich an einen entfernten Onkel, der in Lodz in der Wierzbowa-Straße eine kleine Fabrik besaß. Er hatte einen Sohn, der nach dem September '39 SS-Mann wurde. Anfang '45 zogen sie fort – vornehm ausgedrückt, denn eigentlich flohen sie. Ein anderer Teil der Familie, nicht blutsverwandt mit den Lodzer Fabrikanten, reiste '68 aus. Also konnte ich genauso gut eine Jüdin sein. Die jüngste Generation, also ich, ging '88 weg. Es war kein Jahr, in dem man auf Polen Jagd machte. Es war ganz einfach ein weiteres Jahr Volksrepublik Polen, und ich stellte fest, dass das nächste Jahr dort nicht auszuhalten sein würde. Soviel dazu.

Ich habe keine Lust, Deutsche zu werden und zu erklären, dass ich so schlecht deutsch spreche, weil man mich schon in der Kindheit auf den Straßen Thorns verfolgt hat, weil ich mich der Sprache meiner Väter und Großväter bediente. Wenn sich allerdings herausstellen sollte, dass ich in Frankreich nicht leben kann, werde ich in die Bundesrepublik fahren.

Um Hebräisch zu lernen und Jüdin zu werden, bin ich zu alt. Außerdem glaube ich an den falschen Messias, und leider habe ich mein Aussehen von meinen arischen Vorfahren geerbt. Dass ich nicht zur Jüdin tauge, hat auch Andrzej festgestellt. Er wurde zufällig zum Experten in dieser Frage. Anfang November fuhr er nach Österreich. Einige Nächte lang lag er auf dem Rasen vor einem für Polen schon geschlossenen Auffanglager. Andere hätte solch ein Warten vielleicht gequält, aber der Rasen ersetzte Andrzej ein Krankenhausbett, weil er krank – mit fast 40 Grad Fieber – angekommen war, nachdem man ihm auf komplizierte Weise einen Zahn gezogen hatte. Es war ihm vollkommen egal, ob ihn nachts Araber zu bestehlen oder morgens Polizisten mit Fußtritten zu vertreiben versuchten. Nach einigen Tagen dieses alpinen Davos war er so weit genesen, dass er sich an so etwas wie Amnesty International erinnerte, eine Institution, die ihn einst zur Schar ihrer Schützlinge gezählt hatte. Nach einigen Tagen bekam er ein Hotelzimmer und wartete in aller Ruhe auf sein Ticket nach Kanada. In Wien traf er Bergleute aus Oberschlesien, die aus Geldmangel zu allem bereit waren und sich deshalb entschlossen hatten, in die israelische Armee einzutreten, weil sie irgendwo von einer Rekrutierungsaktion gehört hatten. Andrzej, der Englisch konnte, wurde zur israelischen Botschaft delegiert, um die Aufnahmebedingungen zu vereinbaren oder – im Armeejargon – die Aushebung neuer Kräfte. Die Oberschlesier warteten geduldig vor der Botschaft, während ein empörter israelischer Diplomat Andrzej erklärte, dass die israelische Armee eine nationale Armee sei und nicht die Fremdenlegion. Aber wenn die Herren Juden seien, dann ...

»Nein, ich glaube nicht. Sie sehen nicht wie Juden aus.«
Der Diplomat schaute immerhin diskret durch die Gardinen auf die unglücklichen Freiwilligen und bestätigte Andrzejs Meinung: »Tatsächlich... tja, tut mir leid...«

So glaubte auch Andrzej, dass es mir ohne aussagekräftige Papiere, nur aufgrund des Aussehens, schwerfallen würde, Jüdin zu werden.

Offensichtlich wollte es die historische Vorsehung so, und bestimmt würde sie auch wollen, dass ich nicht zu lange in Paris herumsitze. Sie bekundete das schriftlich und ließ mir diese Nachricht eines schönen Novembertages zukommen. Ich ging die Boulevards an der Seine entlang und bewunderte Notre Dame in natura und auf den Postkarten, die inmitten der Stände der Bouquinisten aufgehängt waren. Zwischen den Bildchen lagen einige Bücher. Ich schaute ein paar vergilbte Schmöker des 19. Jahrhunderts durch, bis ich auf eine wunderschöne Nostradamus-Ausgabe stieß. Ich öffnete die Prophezeiung an einer Stelle, wo es hieß, dass ...eine große Stadt mit einem metallenen Turm entzweibrechen wird... Alle glauben, dass Nostradamus Paris mit dem Eiffelturm im Auge hatte, aber wie kann man sich so passiv den Vorhersagen ergeben und das Schlimmste erwarten? Man muss etwas tun oder zumindest nachdenken, bedenken, dass es schon eine Stadt mit einem gewaltigen Fernsehturm auf dem Alexanderplatz gibt, eine Stadt zerborsten in Ostberlin und Westberlin. Also ist Paris gerettet! Ich habe Paris gerettet.

Durch diese sensationelle Entdeckung beruhigt, gehe ich in die Metrostation hinunter, passiere eine Blueskapelle und ein Mädchen, das Barockkonzerte auf der Flöte spielt. Die meisten Menschen stehen um Schwarze herum, die unglaubliche Rhythmen auf Trommeln, Schachteln und wohl auch auf den Metrowänden schlagen.

»Was glaubst du, warum trommeln sie so?«
»Na, für Geld, aus Spaß.«
»Nein, meine Liebe, sie machen das nur des Geldes wegen. Schau nur, wer ihnen zuhört, ein paar Weiße, der Rest sind Schwarze. Denn die, die trommeln, trommeln bestimmt einen Code und übermitteln anderen Schwarzen Informationen, zum Beispiel dass es heute Arbeit in Duroc gibt oder dass die Bananen am Marché Dupleix am billigsten sind, und andere Schwarze werfen ihnen dafür Geld in die Mützen. Jetzt kommt meine Station, ich steige aus, und du gehst zur Botschaft, oder?«

Du-du gehst zu einem Treffen mit dem Priester, und ich-du zur rumänischen Botschaft die Kundgebung gegen Ceausescu anschauen. Ich weiß, dass die Veranstalter der Kundgebung wie gewöhnlich gebeten werden, ein paar Straßen von der Botschaft wegzugehen, was sie sogleich tun werden. Ein CRS-Lastwagen (im Mai '68 schrie man CRS – SS) wird pro forma dabeistehen, weil die Polizei keinen Grund hat, eine Gruppe älterer Leute zu stören, die sich versammelt haben, um: Ceausescu Mörder! Kommunisten Mörder! zu schreien.

An der Botschaft waren einige Polen, von denen sich ein älterer würdevoller Herr heraushob, der eine polnische Fahne hochhielt, die mit den Aufschriften »Solidarność« und »KPN« verziert war. Ich weiß nicht warum, aber von Zeit zu Zeit schlug er mit der polnischen Fahne an die rumänische und schrie freudig: Pole und Ungar sind Brüder! Neben den Polen standen Blaue Khmer aus Kambodscha, die allen, die es wissen wollten, erklärten, dass sie mit den Roten Khmer, den Anhängern Pol Pots, nichts zu tun hätten.

Als die Versammelten riefen: Vereintes Europa ohne Moskau! begannen die Russinnen mit dem Transparent der Unabhängigen Russischen Gewerkschaften unruhig umherzublicken, weil sie nicht wussten, ob sie dasselbe wie die anderen schreien oder aber so tun sollten, als ob sie nichts verstünden.

Es wurde dunkel und kalt, es begann zu regnen. Ich versuchte die Russinnen aufzuheitern, indem ich ihnen – Freedom for Dracula – zurief, aber die Mädchen waren schon sehr beleidigt. Sie rollten ihr Transparent zusammen und beschlossen, nach Hause zu gehen. An ihre Stelle traten französische Integristen, die eine wunderschöne Fahne trugen: ein weißes Kreuz vor dem Hintergrund der Anjou-Lilien. Am Ende der Veranstaltung erschienen Monarchisten, aber sie mieden die Menge, sodass schwer zu entscheiden war, ob sie Anhänger der Bourbonendynastie oder aber Parteigänger des Grafen von Paris waren.

Als ich von der Botschaft wegging, nahm ich ein rumänisch-französisches Blättchen mit einer wunderschönen kleinen Zeichnung mit:

Käse
Elektrizität
Fleisch
Cioran
Ionesco

An mehr erinnere ich mich nicht.


WINTER 1988

…fang nichts. Eine zerschlagene Vase. Sie steht, und dann voller Blut. Auf der Stirn Wunden, fast Löcher. Das Blut fließt und fließt. Ich schaue auf das Auto und nichts, nein, wir können nicht mit ihm ins Krankenhaus fahren. Ich sage zu ihr: leg Dich hin, oder, Kopf nach unten, vielleicht wird das Blut in dieses Loch in der Stirn zurückfließen, denn mit dem Auto können wir nicht fahren, heute ist Sonntag und ungerade Nummern sind verboten… Na, nichts werde ich machen, das Blut fließt und sie wird immer blasser. Wir gehen zu Fuß durch halb Bukarest zum Krankenhaus. Die Wunde trocknet, gerinnt. Bevor wir angekommen sind, war es fast Schorf, aber dann eine Narbe. Eine große Narbe auf der Stirn in der Form des Buchstabens C. Wie Ceausescu, und diese Narbe durch ihn, durch ihn, durch ihn.


»Beruhige Dich, Konstantin, ruhig, sei jetzt ruhig« – wir versuchen ihm eine Weinflasche in die Hand zu drücken. Aber Konstantin winkt weiter mit der Fotografie seiner blassen, schwarzhaarigen Frau und zeigt mit dem Finger die Narbe auf ihrer Stirn. Wir sehen uns das Foto an, nicken mit den Köpfen, man kann wirklich deutlich ein C sehen.

Wir sitzen auf dem Fußboden. Rumänen, Bulgaren, ein Tscheche, Polen, um uns herum immer mehr Zigarettenstummel, wir trinken Tee, Wein und uns geht es so gut, zusammen sind wir sicher. Niemand von uns will aus diesem dunklen Zimmer in das Foyer für Emigranten gehen, nicht einmal auf den Flur und dort den Kambodschaner mit dem Aussehen eines Pithekanthropus treffen, der immer aufs Neue die Bombardierung durchlebt und mit einem Pfeifen das angreifende Flugzeug nachahmt. Die zweite Person, die man auf dem Flur treffen kann, ist wohl der ehemalige Häftling irgendeines südamerikanischen Regimes, der im Kreis geht, wie während des Spaziergangs im Gefängnishof.

Also besser im Zimmer unter sich bleiben und Wojtek zuhören, der aus Prag weggefahren ist, weil dort je život docela jednoduchy, ale duchovné je težky [das Leben ganz einfach ist, aber das geistige schwer]. Wir alle verstehen ausgezeichnet, dass dieses geistige Leben in der Tschechoslowakei schwer ist und niemand stellt dumme Fragen, warum es so ist. Die Franzosen hätten gefragt. Sie haben sogar den Rumänen Kover gefragt, warum die Metro nicht mehr fährt, ihre eigene Pariser Metro. Kover antwortete, dass Streik sei, er habe darüber in der Zeitung gelesen.


»Wie Streik, bestimmt ein Unfall, aber kein Streik.«
»Ein Streik«, beharrte Kover.
»Ach wo, Herr Ausländer, man muss jemand anders fragen.«


Kover fühlte sich beleidigt und behauptet, dass den Stumpfsinn der Franzosen weder die Französische Revolution noch die hier einst grassierenden Geschlechtskrankheiten noch irgendetwas anderes rechtfertige. Sie seien einfach stumpfsinnig und es habe keinen Sinn, sie in die Geheimnisse des Funktionierens des Kommunismus einzuführen, weil sie nicht einmal ihre so einfache und offene Demokratie begriffen.


»Schließlich hätten sie mich für einen Paranoiker gehalten«, sagte Kover, »wenn ich ihnen gesagt hätte, dass das Erdbeben in Armenien künstlich erzeugt wurde. Wozu soll man eine Republik mit Hilfe der Roten Armee pazifizieren, wenn man die Rebellen mit einer anderen Methode beruhigen kann. Ort und Zeit der Katastrophe wurden so vorzüglich ausgesucht, dass man, wenn man logisch denkt, zu keinen anderen Ergebnissen kommen kann. Gorbatschow ist damals ins Ausland gefahren, um die Schuld den Betonköpfen zuschieben zu können, falls etwas schief gegangen wäre. Einige Monate später gab es ein Erdbeben in der DDR, und es kam bis nach Frankfurt am Main. Natürlich ist die Sache vom Standpunkt der Geologie her unmöglich, also haben die DDR-ler nach sechs Stunden erklärt, dass es eine Reihe unkontrollierter Ausbrüche in einer Kaliumgrube gegeben habe. Aber was ist denn einfacher, als Frankfurt und die Städte des Westens während eines Krieges zu erschüttern.

Man kann auch andere Fakten verknüpfen. Auf den Flugschauen in Paris ging in einem sowjetischen Jagdflugzeug etwas kaputt. Der Pilot katapultierte sich heraus, das Flugzeug flog noch ein Stück und explodierte dann. Man hat diesen Unfall im Fernsehen wohl zwanzig Mal gezeigt, bis alle sich gemerkt hatten, dass sowjetische Flugzeuge, obwohl sie ohne Pilot fliegen können, unzulänglich sind und kaputt gehen. Einen Monat später hat der Flug eines sowjetischen Jagdflugzeugs bis nach Belgien niemanden gewundert. Natürlich war das nur eine weitere Havarie eines Flugzeugs und kein Test, wie der Westen auf einen Angriff der Russen reagieren wird.«

Natürlich hat Kover recht. Wir haben das Erdbeben in Armenien und die russischen Jagdflugzeuge wohl schon hundert Mal in unseren endlosen Gesprächen über Politik, über den Kommunismus und darüber, wie es mit dieser Welt zu Ende gehen wird, durchdiskutiert, denn dass sich alles dem Ende nähert, bezweifelt niemand von uns. Dummheit und das Böse beherrschen die Welt, und wir, die armen Emigranten, die wir den Niedergang des Westens verspüren, können keine Arbeit finden. Recht gut bezahlte Arbeit, die nicht erschöpft, nun überhaupt Arbeit. Leider verschwinden die guten, warmen Jobs. Es gibt seit einigen Jahrhunderten keine Berufe wie croque-mort mehr. Das war vielleicht keine faszinierende Arbeit, aber nützlich und nicht schwer. Der Croque-mort hat den Verstorbenen gebissen. Genauer gesagt hat er ihn in die Ferse gebissen. Wenn sich der gebissene Hingeschiedene bewegt hat, bedeutete dies, dass er kein Hingeschiedener war, wenn der Gebissene nicht reagierte, war klar, dass es keine Schlafsucht war, sondern die ewige Ruhe für alle Ewigkeit.

Wahrscheinlich erforderte das croque-mort-Handwerk ein gewisses Talent. Menschen mit Talent finden immer eine Arbeit. Michał zum Beispiel hat die Akademie der Schönen Künste in Krakau absolviert und malt tatsächlich ausgezeichnet. Er nahm seine abstrakten Bilder nach Paris mit und versuchte sie in Galerien zu verkaufen. Man kaufte ihm aber kein einziges Gemälde ab. Also stellte er alle seine Werke an der Seine auf und saß eine Woche lang bei ihnen. Er hatte noch zwanzig Francs übrig sowie den Gedanken an eine traurige Rückkehr nach Polen. Und dann sah er auf Höhe seiner Nase eine glänzende Aktentasche in gepflegten, beringten Händen. Irgendein vermögender Mensch betrachtete aufmerksam seine Bilder.


»Haben Sie das gemalt?«, fragte er und zeigte auf ein Bild, das gelbe Flecken darstellte.
»Ja, ich bin Maler.«
»Mit dem Diplom einer guten Schule?«, fragte der vermögende Mensch weiter.
»Na klar.«
»Dann kaufe ich Sie.«
Michał war sich seines Französisch nicht sicher.
»Wie mich? Sie sind Marchand, stimmt’s?«
»Erraten. Ich bin Marchand für Käse. Für den besten Schweizer Käse auf der Welt. Beim Anschauen Ihrer Bilder bin ich auf die Idee gekommen, Kunden nicht durch den Geschmack, die Farbe oder eine raffinierte Verpackung anzulocken – denn das hat es alles schon gegeben –, sondern durch etwas wirklich Raffiniertes: durch die Vollkommenheit der Formen und der Löcherkomposition im Käse.«
So wurde Michał Löcherdesigner und ließ sich in der Schweiz nieder. Er verdient super, also kann er es sich leisten, oft Empfänge zu geben. Einen solchen Empfang zu geben, ist schon eine Kunst für sich, für die Michał kein Talent hat. Wenn man nämlich Bekannte einlädt, muss man daran denken, dass einige Vegetarier sind, andere Fleisch essen, aber nur koscheres, und wieder andere sogar nichtkoscheres essen, wenn es nur kein Schweinefleisch ist, ein anderer aus der gleichen Gesellschaft aber vergöttert Eisbein.

Michał hält diese Feinheiten nicht auseinander, er kauft Obst und Fleisch, das seiner Meinung nach schmeckt oder von guter Qualität ist. Am wichtigsten sind bei solch einem Empfang sowieso die Gespräche, sogar die zufällig mitgehörten: – Ich saß in einem Café, und neben mir erzählten zwei deutsche Frauen folgende Geschichte: Irgendeine ihrer Bekannten fuhr nach Frankreich in Urlaub, sie lernte dort einen sehr sympathischen Amerikaner kennen. Große Liebe und so weiter. Bei der Trennung gab er ihr ein Päckchen mit der Bitte, es erst in Köln aufzumachen. Sie schaute schon im Flugzeug in das Päckchen. Darin waren mit einer Schnur zwei tote Ratten zusammengebunden, eine männliche und eine weibliche und daneben ein Zettelchen »Welcome to the AIDS-Club«.

»Nicht schlecht, oder? Stellt euch die Psyche dieses Typen vor, er amüsiert sich mit einem verliebten Mädel und weiß, dass sie in einigen Jahren sterben wird, aber vielleicht schickt das Mädchen auch jemandem einen Gruß mit Ratten.«
»Hört mit diesen Schweinereien auf, beim Essen über Ratten«, beschwerte sich Daniel.
»Wenn du etwas eklig findest, dann nicht wegen der Ratten, sondern weil du Schinken isst. Er schadet dir, du verdaust ihn genetisch nicht. Nimm dir ein Beispiel an deinen Vorfahren und stell diese unreine Nahrung weg, Daniel.«
»Lass mich in Ruhe, Jasiek, du redest schon wie ein Rabbi, bist du vielleicht Jude?«
»Noch nicht.«
»Was heißt: noch nicht?«
»Noch nicht, weil ich von solchen gehört habe, die schon Juden geworden sind; Christopher Kolumbus zum Beispiel. Die einen sagen, er war Genueser, die anderen Spanier, bis er schließlich Jude wurde. Das würde sogar stimmen. Er hieß Kolumbus, also Taube, und was für einen Vogel hat Noah losgelassen, als er neues Land suchte, um sich niederzulassen? Natürlich eine Taube. Bei den Juden hat jeder Name seine Bedeutung. Aber das sind philosophische Überlegungen.«


Fakt ist, dass Kolumbus in einer Generation getaufter Jude war, ein Marrane. Außerdem genügt es, bestimmte Ereignisse zu assoziieren: Kolumbus begab sich auf der Suche nach dem Neuen Land am dritten August frühmorgens auf See (angeblich wusste er ganz genau, wohin er segelte, weil er Karten hatte, auf denen das neue Gelobte Land eingezeichnet war). Dagegen mussten am zweiten August die letzten Juden auf Befehl des römischen Kaisers das Heilige Land verlassen. Zufall? Vielleicht wie Kolumbus am 12.10.1492 oder am 21. Tischri nach jüdischem Kalender, am sechsten Tag des Sukkotfestes, also am Tag Hoschana Raba eine Insel erreichte. Wie nannte er sie? Ganz einfach: Hoschana bedeutet »erlöse uns« – und die Insel heißt Heiliger Erlöser – San Salvador. Interessant ist die florentinische Ausgabe der Briefe über die durch den König Hispaniens entdeckten Inseln aus dem Jahre 1493. Die Illustrationen dieses Buches wurden nach Hinweisen von Kolumbus angefertigt. Was hat Kolumbus im entdeckten Gelobten Land gesehen? Einen Baum, einen sehr merkwürdigen Baum, weil er eher an den siebenarmigen Leuchter, also die Menorah, erinnert. Auf demselben Bild ist auch ein König in einem deutlich mit hebräischen Buchstaben verzierten Mantel gezeichnet, der mit der Hand nicht nach Westen, sondern nach Osten weist, also dorthin, wo sich Eden, das Gelobte Land, befindet. Der geheimnisvolle Monarch muss natürlich nicht David sein, aus dessen Sippe der Messias geboren wird. Gras und Vegetation zu Füßen des Königs bilden die Buchstaben schin und chet. Interessant ist die Wolke, die über Baum, König und Gras schwebt.


Und man assoziiert sie eher mit dem Kopf eines bärtigen Mannes, meiner Meinung nach von Moses, der vor dem Hintergrund der Berge die Steintafeln hält. Deutlich zu sehen sind die Nase und ein Auge, und in diesen Bergen kann man sowohl Zion als auch Hebron entdecken – wie man mag. Vom Kopf Moses gehen quasi Strahlen aus, die Strahlen des Gottesruhmes. Es sind dies keine Hörner auf der Stirn Moses, wie sie Michelangelo gemeißelt hat. Man malte, meißelte Hörner und keine Strahlen, denn das hebräische keren bedeutet sowohl Lichtstrahlen als auch Hörner, man machte einfach einen kleinen Fehler bei der Übersetzung der Vulgata, indem man die Strahlen durch Hörner ersetzte. Um zu Kolumbus zurückzukommen, kann man …

FRÜHJAHR 1989

Am interessantesten im französischen Fernsehen ist die Werbung bzw. eigentlich das Raten, wofür geworben wird. Wenn sich eine entkleidete junge Dame verführerisch auf einem Perserteppich räkelt und sich mit Parfums übergießt, heißt das nicht, dass sie in einen Zustand der Ekstase verfallen ist, weil sie Chanel Nr. 5 riecht oder weil sie mit dem prächtigen Teppich in Berührung kommt. Die Euphorie der jungen Dame weckte das ans Gesicht gedrückte sanfte, duftende, beinahe zärtliche Toilettenpapier. Wenn dagegen irgendein Fragment einer Verdi-Oper gezeigt wird, dann wird garantiert für ein blutiges Beefsteak geworben. Warum? Keine Ahnung, aber es ist schön, überraschend und bunt. Manchmal ist es witzig wie die Apokalypse – eine Flüchtlingshütte, irgendwo in der sibirischen Taiga, Rotarmisten umzingeln sie. Sie brechen die Tür auf, die Fenster, sie dringen sogar durch den Schornstein ein. Die Szene pointiert die Feststellung: Russisches Gas dringt überall ein! Ein Freund, der sich schon in Frankreich niedergelassen hatte, kam beim Betrachten dieser Reklame zu der Schlussfolgerung, dass wir bald sehen würden, wie Chagall Ausflüge nach Tschernobyl empfiehlt oder an den Weißmeerkanal.
»Was redest du da«, wunderte ich mich, »Chagall lebt doch gar nicht mehr…«


»Na, umso besser, da zahlen sie ihm noch mehr! Und überhaupt, schalt den Fernseher aus, das regt mich auf, Frankreich regt mich überhaupt auf. Wenn dieses ganze Frankreich in Polen wäre, würden es die Leute schätzen. Aber so,die Franzosen essen und trinken und denken nur ans Essen und Trinken. Keine Probleme. Alles wie diese Werbung – easy und sinnlos. Ein Priester ist sogar, um den Franzosen das Leben zu erleichtern, auf die Idee gekommen, sie über Bildschirmtext beichten zu lassen. Andere Typen wollten unter den Katholiken ein Referendum abhalten, ob man verhüten dürfe. Der Papst hat eine solche Abstimmung natürlich nicht erlaubt, also fingen sie zu schreien an, in der Kirche gebe es keine Demokratie und die Kirche sei totalitär. Aber es geht nicht nur um Religion, sondern um alles. Ich werde dir etwas sagen, wovon kaum einer weiß, obwohl es eine wichtige Wahrheit ist, die allerwichtigste, wenn man verstehen will, was sich hier abspielt. Siehst du, wenn man Frankreich mit Polen vergleicht, dann ist Frankreich die niedrigere Kultur, wenngleich auf höherem Entwicklungsniveau. Deshalb behandeln die Polen die Franzosen wie Kinder und bewundern gleichzeitig Frankreich. Verstehst du?«
»Aha, würdest du vielleicht noch etwas Wein trinken?« Ich schob ihm ein Glas hin.
»Was für einen?«
»Wie du willst. Griechischen oder italienischen.«
»Gib mir den griechischen. Ich erzähl dir noch was. Ich war vor zwei Jahren in den Ferien, irgendwo bei Athen. Eines Abends kam ich mit einem Freund auf den Campingplatz zurück. Wir gingen auf dem Randstreifen der Straße. Hinter einer Kurve kam ein klappriges Motorrad und fährt direkt auf uns zu. Zwei tätowierte, unrasierte Typen in Lumpen steigen ab. Sie sahen wie Matrosen aus. Ich war neugierig, in welcher Sprache sie reden würden, aber sie fragten schön auf Russisch, ob wir Polen seien. Wir nicken mit den Köpfen. Na, dann fragen sie weiter, ob wir Wodka zu verkaufen hätten. Leider hatten wir keinen mehr.
›Wy Paliaki?‹, zweifelten sie.
›Ja, Paliaki, Paliaki, aber den Wodka haben wir schon ausgetrunken. Aber was macht ihr denn hier, habt ihr euch nicht verirrt?‹
›Kak schto, kak. My zdies’ emigranty‹, antwortete dereine Matrose mit gekränktem Stolz, wonach sie auf das auseinanderfallende Motorrad stiegen und davonfuhren.«
»Du glaubst doch wohl nicht, dass es diesen Russen, die du in Griechenland getroffen hast, schlecht geht?«, fragte ich. Schließlich fahren viele Polen dorthin und sie können immer von ihnen Wodka kaufen, wenn sie Nostalgie verspüren. Mein Bekannter, Monsieur Wong, hat ganz andere Probleme. Er musste aus Kambodscha fliehen, weil er noch unter Prinz Sihanouk Polizist war, und obwohl er, wie er behauptet, Buddhist ist, machte er bei den Kommunisten Zackzack. Dieses Zackzack zeigt Monsieur Wong, indem er vieldeutig über die Kehle fährt.

Zusammen mit seinem kleinen Sohn schlug er sich durch den Dschungel nach Thailand durch. Aus seiner Flüchtlingsgruppe retteten sich nur einige wenige Personen, der Rest begegnete vietnamesischen Patrouillen oder Minenfallen. Aber trotz seines nicht einfachen Lebens lächelt Monsieur Wong immer, wenngleich er mir einmal verriet, dass ihn etwas bekümmert. Diese Sorge ist natürlich nicht so groß, dass er zu lächeln aufhören würde, aber es ist doch ein bestimmtes Problem. Monsieur Wong mag nämlich Hunde, aber Hunde sind in Frankreich sehr teuer. Ich sagte zu ihm, dass ich jemanden, der aus Polen kommt, bitten könne, ein Hündchen mitzubringen: einen Schäferhund, einen Pudel oder einen Pekinesen. In Polen sind Hunde ziemlich billig und einen Mischling kann man sogar umsonst bekommen. Monsieur Wong war von meinem Vorschlag gerührt und vergewisserte sich, ob der Mischling ein großer Hund sei, weil es mit einem kleinen immer viel Arbeit gebe. Ich stimmte ihm zu, dass kleine Hündchen normalerweise langes Fell haben und man ihnen mehr Zeit widmen müsse.


»Natürlich«, stimmte Monsieur Wong zu, »es ist schwer, ein solches Fell auszurupfen.«
»Warum ausrupfen? Ist es nicht besser, es abzuschneiden?«
»Ja ja, zuerst abschneiden, dann ausrupfen und schließlich absengen.«

Und das war der Moment, wo wir uns zu verstehen begannen. Monsieur Wong begriff, dass ich nie einen Hund zubereitet hatte, und ich verstand, warum Monsieur Wong von einem Hund träumte. Das Rezept für den Hund erwies sich als einfach. Man nehme einen Hund, am besten zwei bis drei Jahre alt, und tauche seinen Kopf in einem Wassereimer unter. Nach dem Ertränken schneiden wir ihm den Kopf, die Krallen und den Schwanz ab. Anschließend rupfen und sengen wir ihn wie ein Hähnchen über der Flamme. Hundebraten ist angeblich vorzüglich. Katze ist auch gut, aber weniger schmackhaft als Hund und eignet sich nicht für ein Festtagsgericht. Somit unterscheiden wir uns von Monsieur Wong in den kulinarischen Geschmäckern, aber ansonsten verstehen wir uns ausgezeichnet.

Was ich dagegen nicht ganz verstehen kann, ist die Mentalität meiner Nachbarn von jenseits der Wand. Sie kamen vor drei Jahren aus Peru nach Frankreich. Französisch können sie schlecht, sie lernen dagegen Russisch, besonders sie, und sie sagt nie auf Französisch Moscou, sondern Maskwa mit so einem spanischen Akzent. Dieses ihr Maskwa ist ein Traum, ein Wunder. Die ganze Vorzüglichkeit dieser Welt liegt in diesem Maskwa. Auf die Frage, warum sie in diesem bourgeoisen Paris wohnen, und nicht in Maskwa, beantworten sie mürrisch und sprechen wieder vom Genie Trotzkis oder Lenins.
Er liegt tagelang auf dem Bett und schaut an die Decke, dabei denkt er bestimmt an seine Genossen vom Leuchtenden Pfad.

Mein anderer Nachbar – Hassan Rastman – ist ein afghanischer Fundamentalist und nimmt die Peruaner überhaupt nicht wahr. Er sagt nur Bonjour zu ihnen und kein Wort mehr. Aber eines Tages machte er etwas Unglaubliches, er klopfte an ihre Tür und sagte eine ganze lange Frage, wobei er irgendwohin in die Ecke oder auf den Fußboden schaute:

»Entschuldigung, ich bin nicht zu Ihnen gekommen, sondern ich komme wegen meiner Freundin.«
Denn ich saß gerade beim Leuchtenden Pfad und hörte mir einen Vortrag über die Notwendigkeit der Volksrevolution an. Ich ging mit Rastman auf den Flur und fragte, was mit ihm los sei. Der Afghane winkte mit einer Zeitung und sagte:
»Im Odeon zeigen sie diesen Film, von dem alle Polen erzählen. Le Complot – Zabić Księdza. Wir müssen das sehen.«
»Rastman, ich habe diesen Film zweimal gesehen, geh alleine.«
»Was? Alleine? Erinnerst du dich nicht mehr daran, wer dir alle Sendungen aus Afghanistan erklärt hat, welche Stadt das ist und welche Mudschaheddin-Abteilung. Und was ist mit der polnisch-afghanischen Freundschaft? Ich bezahle dir deine Eintrittskarte, gehen wir.«

Im Kino waren zehn Personen. Wir setzten uns in eine leere Reihe, um niemanden zu stören, wenn wir uns unterhielten. Rastman fragte nur, ob die Stadt, die sie zeigen, wirklich Warschau sei. Nach der Vorstellung gingen wir zu Fuß durch Saint-Germain nach Hause zurück. Rastman lobte den Film natürlich, aber er gab zu, dass er eine Sache darin nicht verstehe. Warum habe man, als die Polizei der Solidarność heimlich Waffen zuschob, daraus eine Affäre gemacht. In Afghanistan müsse man Waffen entweder von drogensüchtigen Sowjets kaufen oder im Kampf erbeuten. Warum würden in Polen die Kommunisten der Opposition umsonst Waffen geben? Ich erklärte ihm, dass es in Polen eine vollkommen andere Lage sei als in Afghanistan und so weiter, was sich Rastman wohl nur aus Höflichkeit anhörte, denn schließlich schlug er vor: »Weißt du, ich bringe dir das Schießen bei. Ich kaufe dir eine Pistole und vielleicht wird dir das einmal nützen.«
»Du kannst schießen? Du hast doch immer gesagt, dass du als Pharmaziestudent in den Bergen Verwundete behandelt hast.«
»Mach keine Witze.« Rastman war fast beleidigt. »In Afghanistan kann jeder Mann eine Waffe bedienen.«
»Aber ich werde so schnell nicht nach Polen zurückgehen, also kaufen wir diese Pistole vielleicht später?«
»Nein, nein. So oder so muss man das Schießen üben, wenn man irgendwelchen Kontakt mit Kommunisten hat, und Kommunisten gibt es sogar in Frankreich.«
Wir verschoben den Schießunterricht auf später, wenn ich mir schon eine Pistole gekauft haben würde. Ich hoffe, dass Rastman seine Idee vergisst. Ich habe nicht die Absicht, einige Hundert Francs für irgendein Schießeisen auszugeben, von dem weder ich noch sonst irgendjemand in Polen Gebrauch machen wird, ganz zu schweigen von der Mühe, eine Waffe über die Grenze zu bringen.

Als ich ins Haus ging, fand ich auf der Treppe eine zerfledderte Zeitung, wohl »Le Figaro«, mit folgender Notiz: »…Die Sonne geht heute um 17.58 Uhr unter«. Sie ist schon untergegangen.

Aus dem Polnischen von Markus Krzoska
Copyright © by Manuela Gretkowska
Copyright © by Wydawnictwo W.A.B. 1995
Artikel erschienen erstmals auf Deutsch im Jahrbuch Polen 2010 Migration, Wiesbaden 2010.
Dank an das Deutsche Polen Institut Darmstadt.


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