Interview mit Balkan-Experte Carl Bildt
Berlin (n-ost) - Der Schwede Carl Bildt war nach Ende des Bürgerkrieges und Abschluss des Dayton-Abkommens von 1995 bis 1997 der erste Hohe Repräsentant der EU in Bosnien. Von 1999 bis 2001 arbeitete er als Sonderbeauftragter des UN-Generalsekretärs für den Balkan. Gemeinsam mit anderen Experten der „Internationalen Balkan-Kommision“ legte er im Sommer 2005 Empfehlungen für die zukünftige Entwicklung der Balkan-Region vor. Der Bericht der Balkan-Kommission fordert eine europäische Strategie zur Integration der Balkan-Staaten in EU und NATO bis 2015. Unser Korrespondent Nils-Eyk Zimmermann sprach mit Bildt über die Perspektiven der immer noch durch den Bürgerkrieg gezeichneten Länder.
FRAGE: Der Report der Internationalen Balkan-Kommissionkritisiert den derzeitigen Status Quo auf dem Balkan, der durch das Dayton-Abkommen geprägt wird. Was empfiehlt die Kommission stattdessen?
BILDT: Stattdessen muss es eine gemeinsame europäische Strategie geben, Staaten zu entwickeln, die europäischen Qualitätsmerkmalen entsprechen und die in die Europäische Union integriert werden. Das ist auch der Weg, der für die Länder Mittelosteuropas Stabilität brachte. Doch dazu benötigt man einen neuen Politikansatz. Die Amerikaner haben andere Interessen. Sie wollen ihre Truppen abziehen. Wir sollten daher die Politik-Führung übernehmen.
FRAGE: Der Report beschreibt drei mögliche Schritte. Erstens ein EU-Gipfel im Sommer 2006, später die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen und schließlich im Jahr 2014 die Aufnahme der Region in die Europäische Union. Ist das eine realistische Perspektive?
BILDT: Ich denke, ja. Die erste Sache, die anliegt, ist die Formulierung einer klaren europäischen Strategie und Politik für die Region im nächsten Jahr. Dazu gehört der ungeklärte Status des Kosovo, einige Probleme in Bosnien, andere in Montenegro - alles muss nächstes Jahr angesprochen werden. Generell wollen wir, dass alle Länder aus der Region Mitglieder der EU werden, 2014/1015 ist dabei realistisch. Es ist extrem wichtig, dass die Leute eine Vision, eine Perspektive haben.
FRAGE: Die EU ist nun aber in einer schlechten Verfassung und scheint derzeit kaum in der Lage zu sein, neue Länder aufzunehmen…
BILDT: Man sollte nicht die Schwierigkeiten herunterreden: Es wird schwierig sein, die EU-Institutionen werden sehr stark belastet. Aber was ist die Alternative? Eine viel komplikationsreichere: Die Tür zum Balkan schließen und sich sicher sein, welche Probleme auf einen zukommen. Wir haben in der Vergangenheit die Kosten des Balkans für ganz Europa gesehen.
FRAGE: Die Balkan-Kommission empfiehlt auch den Beitritt dieser Länder zur NATO, ist das realistisch?
BILDT: Es ist realistisch und eine NATO-Erweiterung ist in diesem Sinne notwendig.
FRAGE: Aber in Polen, der Slowakei oder Ungarn sind keine NATO-Bomben gefallen...
BILDT: ... was es auf dem Balkan komplizierter macht. Aber alles ist komplizierter: Die mittel- und osteuropäischen Staaten kamen aus einer Diktatur und einem sozialistischen System, aber die Staaten des Balkans kamen aus einem Krieg. Zwischen den eigenen Menschen, auch zwischen Nato und Serben. Aber mein Eindruck ist, dass sie Teil des Ganzen sein wollen und auch die Vergangenheit hinter sich lassen wollen.
FRAGE: Ist die NATO auf diese Mitgliedschaften vorbereitet?
BILDT: Die NATO ist einfacher darauf vorzubereiten als die EU, denn NATO-Mitgliedschaft betrifft nur den Sicherheitsbereich, während EU-Mitgliedschaft die Restrukturierung der Ökonomie, des Rechtswesens oder des Verwaltungssystems beinhaltet. Eine EU-Mitgliedschaft ist wesentlich belastender, aber das macht sie auch wesentlich wichtiger für die Schaffung stabiler Gesellschaften.
FRAGE: Sie selbst waren Hoher Repräsentant in Bosnien. Derzeit ist der Deutsche Christian Schwarz-Schilling für das Amt im Gespräch, das Paddy Ashdown zum Jahresende abgeben wird. Wenn man ihre Empfehlungen aber richtig liest, würden sie dieses Amt, das vor zehn Jahren durch das Friedensabkommen von Dayton geschaffen wurde, am liebsten ganz abschaffen, oder?
BILDT: Unsere Kommission kommt zu dem Ergebnis, dass auch, wenn der Repräsentant in Bosnien viele verdienstvolle Dinge getan hat, ein paar Jahre zu lang waren. Die Einheimischen sollen lernen, ihre Fehler selbst zu machen und Kompromisse zu finden. Sie müssen ein Gefühl dafür entwickeln, verantwortlich zu sein. Das Büro des Hohen Repräsentanten in Bosnien sollte also so schnell wie möglich geschlossen werden. Es gibt einen überwältigenden internationalen Konsens darüber, dies zu tun und einige Meinungsverschiedenheiten darüber, wie das zu tun ist und wann man es tun sollte: Letztlich wird es passieren.
Frage: Gilt das auch für den Kosovo?
BILDT: Der Kosovo ist eine weit schwierigere Sache. Wenn es eine Lösung in Bezug auf die Statusfrage geben wird, wird man dort irgendeine Art internationaler Repräsentanz haben, noch für einige Jahre. Auf keinen Fall aber wollen wir einen internationalen Repräsentanten im Stil semikolonialer Strukturen. Die Kosovo-Wirtschaft ist derzeit nicht lebensfähig. Es gibt ein Handelsdefizit von 99 Prozent, die Leute leben von internationaler Hilfe, von den Gastarbeitern im Ausland oder von krimineller Wirtschaft.
FRAGE: Für den Kosovo empfiehlt die Balkan-Kommission einen Dreischritt: Von „Unabhängigkeit ohne volle Souveränität“ über „geleitete Souveränität“ zur „geteilten Souveränität“ im EU-Rahmen. Wird die EU diesen Anforderungen gerecht?
BILDT: Nein! Die Union hat zurzeit keine ausreichenden Strukturen, um die Herausforderungen anzunehmen, die vom Balkan kommen würden. Wenn wir im nächsten Jahr den Gipfel haben, stellt sich nicht nur die Frage, wie man die Balkan-Staaten auf die EU vorbereitet, sondern auch wie man die Union auf die Balkan-Staaten vorbereitet.
Ende
Info:
Report der Internationalen Balkan-Kommisssion
Die Kommission bestand aus 18 internationalen Politikern, darunter Richard von Weizsäcker, der frühere italienische Außenminister Giuliano Amato und Carl Bildt. Die Kommision wurde auf Initiative von vier Stiftungen initiiert: der „Robert Bosch Stiftung“, der „König Baudouin Stiftung“, dem „German Marshall Fund of the US“ und der „Charles Steward Mott Foundation“. Der Report steht in der Tradition früherer Balkan-Kommissionen. Die erste setzte sich bereits 1913 zusammen. Hintergründe zur Kommission inklusive des Berichts als Download findet man unter: http://www.balkan-commission.org/