Reich in der Seele und im Herzen
SARAJEVO (n-ost) – „Ich habe niemals meine Hand aufgehalten und gebettelt.“ Die Hände von Hasani Hussein erzählen die Geschichte eines bewegten Lebens als Schuhputzer und Boxer. Ironischerweise kennt in Sarajevo kaum jemand den richtigen Namen des bekanntesten Bürgers der Balkanmetropole. Hier nennen sie ihn respektvoll „Herr Mischa“, lieben und schätzen ihn als Maskottchen der Stadt. Als im Krieg eine Granate seine Unterkunft zerstörte, war es Ehrensache für die Stadtverwaltung, ihm eine neue Wohnung zu besorgen.
„Wie geht’s Herr Mischa?“ Eine junge Mutter legt im Vorbeigehen ein Geldstück auf den silbernen Schuhputzkasten. „Gut. Gott segne Dich, mein Kind.“ Die Bürger, das Fernsehen, das Radio, die Zeitungen – alle kennen Herrn Mischa. Sogar Filmstar ist er gewesen, hat in den 50er und 60 Jahren in ein paar Produktionen des Jugoslawischen Fernsehens gespielt und gesungen. Sofort möchte er beweisen, dass er die alten Lieder noch auswendig kennt und beginnt zu singen. Seine stahlblauen Augen blicken dabei durch Menschen und Gebäude hindurch in eine vergangene Zeit.
Seit 58 Jahren sitzt Herr Mischa jeden Tag von 9 bis 19 Uhr auf den Straßen Sarajevos. „Egal ob die Sonne scheint, ob es regnet oder schneit. „Egal ob sie schießen oder nicht.“ Ja, auch während des Krieges habe er täglich hier gesessen, bestätigt Safet Islami, der gerade des Weges kommt. Und nicht nur das. Mehrere Male habe er nach Granatenangriffen verirrte Kinder von der Straße geholt und vor den Kugeln der Scharfschützen in Sicherheit gebracht. Als Held sieht sich Herr Mischa aber nicht. Und auch für Politik habe er sich nie interessiert. „Ich bin kein Roma, wie das heute heißt. Ich bin Zigeuner.“ Wer bei ihm die Filme von Emir Kusturica anspricht, erntet ein tiefes Seufzen. „Kusturica hat uns verkauft, mein Sohn. Er hat aus uns Zigeunern Figuren für den Zirkus gemacht.“
Dabei wäre auch die Lebensgeschichte von Herrn Mischa eine Verfilmung wert. 1924 wurde er im serbischen Niš geboren. Einen Pass hat er nie besessen. „Wozu?“ Seine weiteste Reise führte ihn 1947 von Serbien nach Bosnien, als seine Eltern mit ihm nach Sarajevo umsiedelten. Bereits mit sieben Jahren erlernte er von seinem Vater jenes Handwerk, das – bis auf ein paar Jahre als Boxer – sein Leben prägen sollte: Schuhputzen. „Was Schuhe für mich sind?“, jauchzt der rüstige 75-jährige. „Vielen Dank, mein Sohn, dass Du mich das fragst.“ Und dann möchte er gar nicht mehr aufhören, zu erzählen. „Hast Du gesehen, wie glücklich der Herr war, dem ich eben die Schuhe geputzt habe? Ich bin der Meister dafür. Wenn sie gelb oder weiß sind und er möchte eine andere Nuance? Kein Problem!“
Schuhputzen sei sein Leben, seine Leidenschaft. Er träume davon, würde im Schlaf seine Kunden fragen, wie sie es gerne hätten und sich Gedanken über die richtige Creme oder Farbe machen. „Ich kann Schwarz, ich kann braun, ich kann weiß.“ Er wisse, wie Schuhe atmen. Was gehe und was nicht.
„Als einziger Schuhputzer in der ganzen Stadt behüte ich die Tradition meines Vaters“, sagt Herr Mischa. Seine Kinder und Enkel werden dies nicht weiterführen. „Sie sagen, es wäre elendig, aber hör gut zu, mein Sohn.“ Zuerst hebt er mahnend den Zeigefinger in die Luft, legt anschließend die flache Hand auf das Herz seines Gegenübers. „Schuhputzen ist das beste und ehrlichste Handwerk, das es gibt.“ Dann leuchten seine Augen wie die eines Kindes und er wartet auf die Bestätigung seiner Worte. Wer würde sie ihm verweigern?
Tränen füllen seine Augen als er davon erzählt, wie der bosnische Präsident Sulejman Tihic sich von ihm die Schuhe putzen ließ und dabei fragte „Na, wie geht’s, Herr Mischa?“ Das war einer seiner schönsten Tage. Genau wie jener Moment vor 40 Jahren, als er etwas Geld auf der Straße gefunden hatte, das jemanden aus der Tasche gefallen ist. „Dafür habe ich meinen Kindern ein Radio gekauft.“ Sie hatten noch nie zuvor eines gesehen.
Solche Momente bedeuten für ihn wahres Glück. „Wenn ein Mensch wie ich gesund ist, essen kann, was er möchte und ohne Druck leben kann.“ Wenn er frei von Anstrengung und Gesundheit sei. „Reichtum ist nichts. Millionen sind nichts.“ Aufrecht und stolz sitzt Herr Mischa auf seinem hölzernen Hocker, als wäre es ein Thron. „Wenn ein Mensch ein bisschen Brot, Salz und ein Glas Wasser hat, ist ihm das Gold.“ Er habe sich niemals beklagt, liebe es, das Volk glücklich zu machen. „Der Nachteil ihres Reichtums ist, dass die Menschen alles haben aber sich trotzdem beschweren. Ich habe nichts, aber ich bin reich in meiner Seele, reich im Herzen. Ich singe. Ich lebe.“
Vor einiger Zeit hat Herr Mischa mit seinem kleinen Betrieb expandiert. Nun steht neben dem Schuhputzkasten eine silberne Waage, auf der die Menschen im Vorbeigehen Halt machen und sich von der lebenden Legende ihr Gewicht sagen lassen, als ob sie selbst keine Zahlen lesen könnten. „Wieviel sind es, Herr Mischa?“ fragt eine ältere Frau mit schon fast ängstlicher Stimme. „Siebzig. Und nun muss ich arbeiten, Du siehst ja, dass ich ein Interview gebe.“ Die Frau geht lächelnd in den Tag. Die Waage hatte deutlich über 80 Kilogramm angezeigt.
Der letzte Wunsch des Schuhputzers ist es, an seiner Arbeitsstelle zu sterben. „Mich sollen sie hier wegtragen.“ Ein Grab habe er sich schon ausgesucht – neben einem Basketballspieler, den er sehr bewundert. „Hör gut zu! Die geehrten Persönlichkeiten, die Regierenden kennen meinen Namen. Sie nennen mich Herrn Mischa, den Zigeuner. Und das bin ich gewesen. Das bin ich geblieben. Und so werde ich sterben.“
ENDE