Der Katastrophe zweiter Teil
Fährt man mit dem Zug durch die kargen Steppen Kasachstans Richtung Norden, taucht er irgendwann wie eine Fata Morgana am Horizont auf – der Balchasch-See. Viele Kilometer führen die Gleise entlang seines Ufers. Seine Wasserfläche erstreckt sich so weit das Auge reicht. Fast wähnt man sich am Meer. Stürmen dann auch noch die fliegenden Händler mit Räucherfisch den Waggon, ist die Illusion vom Meer mitten in der Steppe perfekt.
Mit über 18000 km² Fläche, etwa 30-mal größer als der Bodensee, gehört der Balchasch zu den größten Seen der Erde. Doch nicht nur seine enorme Ausdehnung inmitten staubtrockener Ebenen fesselt den Betrachter. Einzigartig ist auch seine Beschaffenheit: Während der westliche Teil aus Süßwasser besteht, ist der östliche stark salzhaltig.
In den uralten Legenden der Kasachen hat der See eine wichtige Stellung und wird als „Vater Balchasch“ verehrt. Doch auch in der Realität stellt er die Grundlage für ein riesiges Ökosystem dar, das nicht nur Tieren und Pflanzen einen Lebensraum bietet. Auch etwa drei Millionen Menschen, etwa ein Fünftel der Bevölkerung Kasachstans, sind komplett vom Wasser des Sees und seiner Zuflüsse abhängig.
Umgekehrt greift der Mensch aktiv in den Wasserhaushalt des Gewässers ein. Besonders der Durst von Landwirtschaft und Industrie bestimmt die Entwicklung des Balchasch. Schon in den 70er Jahren führte der Bau von Staudämmen an den Zuflüssen des Sees zum Absinken des ohnehin flachen Gewässers. Erinnerungen an das Schicksal des sterbenden Aral-Sees an der Grenze zu Usbekistan kommen auf. Die Intensivierung des Baumwollanbaus in Mittelasien in den 50er Jahren und die damit verbundene massive Wasserentnahme aus den Zuflüssen des Arals haben den einst viertgrößten See der Erde an den Rand der Austrocknung gebracht. Heute umfasst er nur noch ein Drittel seiner ursprünglichen Fläche und ein Viertel seines Volumens. Das Klima der gesamten Region ist aus dem Gleichgewicht geraten. Stürme tragen Sand, Salze und Pestizide vom frei gelegten Seeboden aus Hunderte Kilometer weit ins Land. Eine erhöhte Kindersterblichkeit und herabgesetzte Lebenserwartung lassen sich deshalb auch noch in großer Entfernung zum früheren See nachweisen.
Ein solch düsteres Szenario ist dem Balchasch-See noch erspart geblieben. Doch Wissenschaftler und Umweltschützer warnen entschieden vor möglichen Folgen des ständig steigenden Wasserverbrauchs in Kasachstan. „Von der Katastrophe am Aral-See sind Hunderttausende Menschen betroffen.“, betont Mels Eleusizow von der Umweltbewegung „Tabirat“ (zu deutsch: Natur). „Das drohende Verschwinden des Balchasch allerdings würde eine Region mit Millionen von Menschen ins ökologische Chaos stürzen.“
Anlässlich der zweiten Konferenz zur Situation des Balchasch-Sees, die Anfang Oktober in der kasachischen Stadt Almaty stattfand, wurde auch der grenzüberschreitende Charakter der Balchasch-Frage unterstrichen. Denn der Ili-Fluss, der wichtigste Zufluss des Balchasch, entspringt auf chinesischem Territorium. Im Reich der Mitte hat man den Wert der Ressource Wasser erkannt, und den Reichtum, den der Ili spendet, fest in die Aufbaupläne für die rückständige Grenzprovinz Xinjiang integriert. Schon jetzt zweige China einen enormen Teil des Flusswassers für Bewässerungsprojekte ab, kritisiert Mels Eleusizow, der sich seit mehreren Jahrzehnten mit den Wasserproblemen in Zentralasien beschäftigt. „Wenn die Führung in Peking weiterhin im großen Stil Staudämme bauen lässt und wie geplant Millionen von Menschen im Ili-Tal ansiedelt, könnte es schon in wenigen Jahren zu spät sein für den Balchasch“, so der besorgte Umweltschützer.
Noch herrscht Ruhe und Frieden über dem Balchasch. Der Seespiegel unterliegt von Natur aus zyklischen Schwankungen, und hat im Laufe des 20.Jahrhundert mehrere Hochs und Tiefs erlebt. „Seit 1998 ist der Wasserstand des Sees sogar um mehr als zwei Meter gestiegen und bewegt sich weiter auf stabilen Niveau“, macht der Hydrologe Prof. Abaj Tursunow deutlich. Dies könne sich, so räumt Tursunow ein, jedoch mittelfristig ändern, denn Prognosen seien nur sehr schwer treffen. „Die Forschung ist einfach noch nicht weit genug.“
Vertreter der Zivilgesellschaft warnen mit Blick auf den verschwindenden Aralsee indes vor einer Bagatellisierung des Problems. „Wir können uns nicht leisten, die Lösung der Balchasch-Frage auf die lange Bank zu schieben. Wir brauchen so schnell wie möglich wissenschaftlich fundierte Grundlagen“, so Mels Eleusizow. Daran sollte sich schließlich das Rettungsprogramm für das Gewässer orientieren.
Ein Papier zur nachhaltigen Entwicklung der Region, das nicht nur die Wasserknappheit, sondern auch die Wasserverschmutzung und die bedrohte biologische Vielfalt am Balchasch anspricht, hat das kasachische Umweltministerium bereits in aller Eile vorgelegt. Zu unausgegoren, unvollständig und schlecht finanziert seien die darin aufgezählten Handlungsvorschläge, kritisieren Bürgervereinigungen. „Wir müssen jetzt sinnvolle Lösungen finden, die“, so Mels Eleusizow, „von allen beteiligten Akteuren auf nationalem und internationalem Level getragen werden. Das schließt ernsthafte Verhandlungen mit der chinesischen Führung mit ein.“
Wie im Fall des Aralsees scheitern bilaterale Regelungen um den Balchasch bisher an der fehlenden Bereitschaft zur Kooperation. Kurzfristige Ziele wie schnelles wirtschaftliches Wachstum oder auch nur eine gesicherte Baumwollernte haben Priorität gegenüber der Erhaltung natürlicher Ressourcen wie dem in Zentralasien so kostbaren Wasser. Werden diese Denkmuster nicht aufgegeben, droht dem Balchasch das Schlimmste. Und in wenigen Jahrzehnten wird anstatt des unendlichen Sees nur eine Fata Morgana inmitten der weiten Steppe bleiben.