Die Qual der Geschichte fühlen
SARAJEVO (n-ost) – Seit fünf Jahren lebt der amerikanische Journalist Drew Sullivan in Sarajevo. Wenn er Gäste aus dem Ausland empfängt, ist ein Besuch im Tunnelmuseum fester Programmpunkt. „Jeder kommt in die Stadt und möchte Überbleibsel des Krieges sehen, ihn verstehen“, sagt Sullivan. Und das privat betriebene Tunnelmuseum in Sarajevo erzähle besser als jeder Text die Geschichte vom Leid der belagerten Stadt.
Von April 1992 bis weit ins Jahr 1996 hinein – exakt 1425 Tage - war Sarajevo, die Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas, durch serbische Truppen von der Außenwelt abgeschnitten. Täglich regneten Hunderte von Granaten von den umliegenden Bergen auf die Stadt. Die Lebensmittelversorgung über den von der UN kontrollierten Flughafen funktionierte nur sporadisch. Im April 1993 begann dann eine handvoll Soldaten von Grundstücken am Rande des Flughafenrollfeldes aus, in monatelanger Handarbeit einen geheimen Tunnel in die Erde zu treiben. Dieser hatte nach seiner Vollendung eine hohe militärische Bedeutung. Pro Tag durchquerten durchschnittlich 4000 Personen den 800 Meter langen, 1,50 Meter hohen Tunnel und brachten auf ihrem Weg jeweils bis zu 50 Kilogramm Lebensmittel und Ausrüstung in die belagerte Stadt, oder ihr Hab und Gut aus der Stadt hinaus. Zusätzlich wurden ein Starkstromkabel, eine Treibstoffpipeline und eine Telefonleitung durch den Tunnel geführt. Vor allem nachts wurden mit Hilfe eines Schienensystems mit 25 kleinen Wagen bis zu 20 Tonnen Material in die Stadt transportiert. Nach dem Krieg verfiel der Tunnel bis auf einen kleinen Rest.
„Mein Vater hatte die spontane Idee, den Tunnel zu erhalten“, erinnert sich Edis Kolar. In Eigenregie hat seine Familie die knapp 20 Meter des Bauwerkes auf ihrem Grundstück konserviert und direkt daneben in ihrem ehemaligen Wohnhaus ein kleines Museum eingerichtet. Seit Jahren versuchen sie, sich mit den Behörden über eine offizielle Lösung für die Zukunft des Tunnels zu einigen. Brisant ist, dass die Kolars bereits seit 2000 in einem neuen Haus im Stadtteil Butmir leben, das die Stadt im Tausch für das alte Haus der Familie bauen ließ. Doch Edis weigert sich entschieden, das Museumsgelände abzugeben. „In der Abmachung mit der Verwaltung ist nicht von dem Tunnel die Rede gewesen“, begründet Edis seine Haltung. „Aber das Museum ist eine Zukunft wert. Und dafür gibt es keinen Preis.“
Mittlerweile herrscht reger Besucherverkehr: überwiegend ausländische Touristen und Soldaten, die 2,50 Euro Eintritt zahlen, um den Tunnelrest und eine Ausstellung mit Militaria zu betrachten. Ein Heft mit der Geschichte des Tunnels kostet ebenfalls 2,50 Euro und ist inzwischen in sieben Sprachen erhältlich. Zum Markenzeichen des Tunnelmuseums hat sich ein Stadtplan aus den Zeiten der Olympischen Winterspiele 1984 entwickelt. Edis hat beim Aufbau der Ausstellung auf der Karte mit einem Filzstift den Frontverlauf der Belagerung nachgezeichnet, so verbinden sich auf gespenstische Weise das fröhlichste und das schrecklichste Ereignis in der Geschichte der Stadt.
Er wolle das Museum gar nicht verkaufen, so Edis, sondern wäre bereit, es kostenlos zur Verfügung zu stellen. Unter zwei Bedingungen: „Die Stadt soll offiziell anerkennen, dass meine Familie dies hier aufgebaut hat.“ Außerdem fordert er für sich und seinen Vater eine Anstellung in dem dann staatlichen Tunnelmuseum, um der drohenden Arbeitslosigkeit zu entgehen. Edis sieht damit das in der Bevölkerung herrschende Vorurteil widerlegt, es ginge seiner Familie beim Streit mit der Verwaltung nur ums Geld. „Die sind alle nur neidisch. Am schlimmsten sind meine Nachbarn. Jeder andere wäre glücklich, wenn ihm jemand Touristen vor die Haustür fahren würde und sofort einen Imbiss oder Laden aufmachen.“
Interessant hierbei sei, dass es auf dieser Seite des Flughafens einst fünf Zugänge gegeben habe. Alleine der direkte Nachbar hätte ein Stück vom Tunnel, einen Checkpoint und einen Graben auf seinem Grundstück gehabt, erzählt Edis lachend. „Aber sie waren zu kurzsichtig und haben es direkt nach dem Krieg kaputt gemacht, um an das Material zu kommen.“
In zwei Monaten soll in einem renovierten Turm in der Stadt eine weitere Ausstellung über die Zeit des Krieges öffnen. Zurzeit arbeiten die Veteranen der Organisation „Grüne Baretts“ an einem großen Kriegsmuseum im unmittelbaren Zentrum Sarajevos, das ab Februar 2006 für die Öffentlichkeit zugänglich sein soll.
Fremdenführer Dino Lemes ist sich allerdings sicher, dass das Museum der Familie Kolar ein wichtiger Anziehungspunkt bleiben wird. Es sei mit Abstand die wichtigste Station auf seiner Touristentour „Zeit des Unglücks“, die seit fünf Jahren veranstaltet wird. Die italienische Theaterpädagogin Manuela Cascie war schon mehrmals mit Bekannten zu Besuch. Sie sagt: „In diesen Wänden ist die Qual der Geschichte zu fühlen.“
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