Die Wanderung der weißen Kittel nach Westen
Prenzlau/Neustadt (n-ost) - Freiwillig ist sie nicht gegangen. In Otwock ist sie geboren, hat sie geheiratet, Kinder bekommen und viele Jahre gearbeitet. Doch irgendwann muss die Verzweiflung beim Blick ins Portemonnaie größer gewesen sein, als die Angst vor dem Aufbruch. Seit Monaten hatte das städtische Krankenhaus der Internistin kein Gehalt mehr zahlen können. Und so hat Janina-Ewa Jablonska-Pitrus mit 40 Jahren einen Neuanfang in Deutschland gewagt: Seit April dieses Jahres führt sie eine private Internisten-Praxis im thüringischen Neustadt an der Orla. Drei Monate lief sie mit ihrem Vorgänger Dr. Rainer Witzel mit, dann übernahm sie die rund 800 Patienten. Seitdem sind sogar neue hinzugekommen. Sie fühlt sich gut aufgenommen in der ostdeutschen 10.000-Einwohner-Kleinstadt. Ihre drei Kinder im Alter von sechs, fünf und zwei Jahren haben schon etwas Deutsch gelernt und gehen gern in ihre Kita, ihrem Mann wurde eine Arbeit in Aussicht gestellt, sobald er der Sprache mächtig ist.
Auch Chirurg Pawel Tarnowski aus Stettin hat das klamme Portemonnaie nach Deutschland verschlagen: Sein Krankenhaus ist seit Jahren verschuldet, jedes Jahr ist es in seiner Existenz bedroht. „Es hat mir gereicht“, so das Fazit des 50-jährigen, der über eine Anzeige in der Zeitschrift der polnischen Ärztekammer seinen neuen Job am Krankenhaus von Prenzlau in Ostbrandenburg fand. Um 5.10 Uhr klingelt bei ihm der Wecker, um 7 Uhr ist er an seinem Arbeitplatz in Deutschland. Die tägliche Fahrtzeit von rund zwei Stunden sieht er gelassen: „Ich bin nicht so müde wie früher, als ich nach der Arbeit im Krankenhaus zusätzliche Stunden in privaten Praxen geleistet habe“. Ihm gefällt die deutsche Ordnung: „Alles hat seinen Platz, jeder kennt seine Aufgaben“.
Die beiden Mediziner sind keine Ausnahmeerscheinungen in den neuen Bundesländern. Seit Jahren besetzen vor allem Polen die vakanten Stellen in Kliniken, Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtungen. Sie übernehmen die Praxen von Ruheständlern, für die sich sonst kein Nachfolger findet. Die sächsische Ärztekammer meldet seit 2001 einen stetigen Zuwachs von ausländischen Ärzten. Im ersten Halbjahr 2005 wurden 124 Mediziner aus Polen gezählt. In Thüringen sind es derzeit 46 und die Ärztekammer von Brandenburg erfasst derzeit 86 Polen.
Ohne die Helfer aus dem Nachbarland hätten viele Krankenhäuser zwischen Usedom und Aue arge personelle Engpässe. Denn deutsche Mediziner meiden den Osten der Republik. Hier müssen sie nicht nur länger arbeiten, sondern bekommen dafür auch weniger Geld. Von Zufriedenheit ist allerdings auch in den alten Bundesländern keine Spur, wie das Phänomen der „Flying doctors“ zeigt: Immer mehr deutsche Ärzte jetten für einen Wochenenddienst nach Großbritannien, wo sie in zwei Tagen mehr verdienen, als in einem ganzen Monat in Deutschland. Genauso nutzen viele polnische Ärzte die mehrjährige Ausbildung zum Facharzt in einer brandenburgischen Einrichtung als Sprungbrett zu besser bezahlten Stellen im Westen. Das zeigt die hohe Zahl von Abmeldungen in der Ärztekammer nach einer gewissen Zeit.
Bald wird der akute Ärztemangel in Kliniken auch im ambulanten Bereich anfangen zu schmerzen. „Ostdeutsche Ärzte, die in den Ruhestand gehen, finden kaum noch Praxisnachfolger“, so Regina Feldmann von der Kassenärztlichen Vereinigung Thüringen. Und Besserung ist nicht in Sicht: Hausärzte würde ihre Zulassung durchschnittlich im Alter von 62,6 Jahren zurückgeben. Das bedeutet, dass im Jahr 2010 über 40 Prozent der niedergelassenen Ärzte in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen nicht mehr praktizieren werden.
Als Erste-Hilfe-Maßnahme hat die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Thüringen ab 1. Oktober in der Stadt Ohrdruf eine Eigeneinrichtung eröffnet. In den gemieteten Räumlichkeiten werden Ärzte und medizinisches Personal direkt bei der KV angestellt sein. Die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern will sogar den Aufbau einer internationalen Berufsakademie unterstützen, die Mediziner aus Polen gezielt auf die Arbeit im Nordosten Deutschlands vorbereiten soll.
Indes nutzen Dutzende von Vermittlungsbüros die Chance des Medizinerkarussells für sich. Eine davon ist die Firma Bautec in Cottbus. Nur sechs Monate nach ihrer Gründung schafft sie schon einer Handvoll Juristen, Steuerberater und Mediziner ein Auskommen. Bald will sie ihre Tätigkeit in der Grenzregion von Polen und der Slowakei ausweiten und Suchende in ganz Europa zusammenführen. „Wir bieten einen Rundum-Service, bei dem wir zu den Ämtern begleiten, eine Wohnung und Kindergartenplätze besorgen“, erzählt Mitarbeiterin Kerstin Bednarski. Gezieltes Abwerben von Ärzten wie es einige Konkurrenten praktizieren ist für sie allerdings tabu: „Wir wollen helfen, einen Notstand zu beheben und die Marktwirtschaft sozial und gerecht gestalten“, lautet der hehre Grundsatz.
Trotz der massenhaften Ärztewanderung von Ost nach West ist der Weg alles andere als ausgetreten. Jeder muss sich selbst durch das Dickicht der Bürokratie schlagen. Von der Anerkennung der polnischen Diplome im Ausland bis zur Erteilung der Berufs- und Arbeitserlaubnis in Deutschland vergehen im Durchschnitt vier Monate. Und obwohl der Mangel an Helfern in Weiß bekannt ist, tun sich die Behörden schwer mit der Erteilung der notwendigen Papiere. „Wir haben das Problem, dass wir primär deutsche Ärzte einstellen müssen“, klagt die Geschäftsführerin des Klinikums in Frankfurt (Oder), Judith Bein. Und auch Vermittlerin Kerstin Bednarski ist ratlos angesichts der Direktive der Ämter, sich doch mehr um deutsches Personal für freie Stellen zu bemühen. „Wenn andere Jobbörsen das noch nicht geschafft haben, warum sollten wir es dann schaffen?“ Viele unverzichtbare polnische Kollegen müssen daher Jahr für Jahr ihre Arbeitserlaubnis verlängern lassen. „Ich sehe meine Beschäftigung als vorübergehend an“, sagt Pawel Tarnowski aus Stettin. Wer weiß, ob im nächsten Jahr nicht einem Deutschen der Vorrang im Operationssaal eingeräumt wird.
Krystyna Tresp (33) erfuhr wiederum vom Landesamt für Soziales und Versorgung in Brandenburg, dass sie nach vier Jahren Berufspraxis in Berlin und Breslau ihr drittes Staatsexamen nachholen muss, um eine dauerhafte Berufserlaubnis für Brandenburg zu erhalten. Wenn sie dieser Aufforderung nicht innerhalb von einem Jahr nachkomme, drohe ihr Gefängnis, teilten die Staatsdiener der jungen Frau mit. Die EU-Osterweiterung kam ihr schließlich zu Hilfe.
Den Kampf mit der deutschen Bürokratie hat die erste Generation der medizinischen Einwanderer aus Polen hinter sich oder nie ausgefochten. Sie kamen um 1980/81 und besetzen heute die begehrten Posten in der deutschen Hauptstadt oder betreiben eine gut laufende Praxis. Doch auch sie hat der kühlere Wind auf dem Markt gestreift: „Ich habe 2004 zirka zehn Prozent weniger als im Jahr zuvor verdient“, rechnet Internist Andrzej Klobukowski vor, seit 20 Jahren in Berlin tätig. Denn während früher die Überstunden ausgezahlt wurden, gibt es seit einiger Zeit nur Freizeitausgleich - der aus Personalmangel jedoch nie in Anspruch genommen werden kann. So mancher denkt über Rückkehr nach Polen nach.
Dass über dem deutschen Arbeitsmarkt schon lange die rosaroten Wolken verschwunden sind, spüren auch die jüngeren Ärzte. Das einstige Höchstverdiener-Land schneidet nicht nur beim Vergleich mit Großbritannien und Skandinavien schlechter ab – wo den Auswanderern oft kostenlose Sprachkurse geboten werden – sondern manchmal sogar mit dem viel ärmeren Polen. „Die Bezahlung in Polen ist schlechter. Aber dort hat ein Arzt nur wenige Patienten zu betreuen, in Deutschland sind es 30“, sagt Krystyna Tresp. Sie spielt seit längerem mit dem Gedanken, das Kapitel Deutschland abzuschließen und eine Akupunktur-Praxis in Polen zu eröffnen.
Auch Janina-Ewa Jablonska-Pitrus wird schwach ums Herz – trotz der überaus freundlichen Aufnahme in Thüringen und der hilfsbereiten Kollegen – wenn sie an ihre Familie und Freunde denkt, die sie in ihrer Heimat zurückgelassen hat. Zumal sie erkennt, dass das deutsche Gesundheitssystem an denselben chronischen Krankheiten leidet wie das polnische, nur auf einem anderen Niveau.
Doch bis jetzt brauchen beide Seiten einander. Und wer weiß, vielleicht wird in der kommenden Generation wahr, was die Geschäftsführerin des Frankfurter Klinikums so trotzig schon jetzt behauptet, um sich die lästige Presse vom Hals zu halten: Dass sie angesichts der vielen Nationalitäten, der Pendler und der gemischten Ehen gar nicht mehr auseinander halten kann, wer von dies- und wer von jenseits der Oder stammt.
Ende