Kroatien kehrt dem Balkan den Rücken
Die bunten Lettern fallen sofort ins Auge: «Danke Österreich» titelt die kroatische Wochenzeitschrift «Nacional» in ihrer aktuellen Ausgabe. Bei der österreichischen Außenministerin Ursula Plessnik bedanken sich die Medienmacher gleich mit einer mehrseitigen Reportage: «Die Frau, die Kroatien die Türen zur EU öffnete». Die Politikerin spiele eine Schlüsselrolle, da sie selbst nach drei bilateralen Treffen mit ihrem britischen Amtskollegen Jack Straw nicht nachgegeben habe, berichtet «Nacional». Die Österreicherin habe mit Rückendeckung durch Kanzler Wolfgang Schüssel gegenüber den übrigen EU-Mitgliedsländern hartnäckig darauf bestanden, dass es keine doppelten Standards in der EU für zwei Länder geben könne und so den gleichzeitigen Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und Kroatien durchgesetzt.
Die Verhandlungen zwischen der EU und Kroatien drohten zuvor an der Frage der Auslieferung des mutmaßlichen Kriegsverbrechers General Ante Gotovina zu scheitern, der sich vermutlich in Kroatien versteckt hält. Gotovina wird der Tod von mehr als 150 Serben während des Jugoslawienkrieges von 1991 bis 1995 vorgeworfen. Die USA haben auf seine Festnahme mehrere Millionen US-Dollar ausgesetzt. Gotovina ist in Kroatien Dauerthema: In den kroatischen Tageszeitungen treten regelmäßig «Augenzeugen» in Erscheinung – mal will ihn jemand beim Kaffee trinken, mal beim Baden beobachtet haben. Und in Dalmatien hatten in den vergangenen Sommermonaten mehr als 60 meterhohe Plakate am Straßenrand für Kritik gesorgt – man befürchtete, dass Touristen dadurch abgeschreckt werden könnten. Dabei gilt Gotovina in seiner Heimat nicht als Verbrecher, sondern als Held. Fast die Hälfte der Bevölkerung teilte diese Meinung noch vor kurzem.
UN-Chefanklägerin Carla del Ponte beharrte hartnäckig auf die Festnahme des mutmaßlichen Kriegsverbrechers. Diesen vermutete sie in einem der über 80 Franziskaner-Kloster irgendwo in Kroatien, unter dem Schutz des Vatikan. «Keine EU-Verhandlungen ohne den General» – diesen Satz konnten die Kroaten in den vergangenen Monaten zur Genüge in den Medien lesen. Aus diesem Grund waren die Beitrittsverhandlungen, die ursprünglich für den 17. März angesetzt worden waren, auf unbestimmte Zeit veschoben worden. Erst am Montag hatte Carla del Ponte den kroatischen Behörden bescheinigt, dass sie bereits seit einigen Wochen vollständig mit dem UN-Kriegsverbrechertribunal zusammenarbeiten würden. Ein überraschender Sinneswandel, über den die Medien nun viel spekulieren. Auch Österreichs Außenministerin gratulierte Kroatien demonstrativ zur Zusammenarbeit mit dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. «Respekt Kroatien», so die Politikerin im Hinblick auf die bisherigen Reformen im Land.
Am Ende sei es deutlich geworden, dass der Fall des flüchtigen Generals unwesentlich für den Beginn der Beitrittsverhandlungen gewesen sei, kommentiert die Zeitung «Nacional». «Der General war nicht das Problem», so die Zeitschrift. Vielmehr sei dies der Vorwand einiger Länder gewesen – allen voran Großbritannien –, um die Stabilität in der Region zu gewährleisten. Konkret bedeutet dies, dass Kroatien nicht ohne Serbien und Montenegro, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina dem europäischen Staatenbund beitreten solle. Politische Beobachter befürchten, dass der EU-Beitritt Kroatiens im Alleingang die politische Stabilität in der Region gefährden könne.
Eine neue Ära habe nun für Kroatien begonnen, sagte Premier Ivo Sanader. Besonders stolz sei er darauf, dass diese «geschichtliche Wendung» Kroatiens in einer sehr kurzen Zeitspanne eingetreten sei, so der Politiker in einer Regierungsrede. «Glaubt Kroatien», rief Sanader seine Zuhörer auf. Denn Kroatien habe «den Wunsch, die Kraft und die Willensstärke, seinen Reformkurs fortzusetzen».
Staatpräsident Stipe Mesic zeigt sich unterdessen sehr optimistisch: Bis 2008 werde sein Land der EU beitreten, hofft der erste Mann im Staat. «Das sind gute Nachrichten, doch sie dürfen keine Euphorie hervorrufen, denn uns stehen noch große Anstrengungen bevor, die wir zunächst erbringen müssen, um unseren Bürgern eine bessere Zukunft garantieren zu können», sagte Mesic in einer Sendung des «Kroatischen Radios». Vor allem dürften die nationalen und staatlichen Interessen im Verlauf der Beitrittsverhandlungen nicht aus den Augen gelassen werden, um einen Ausverkauf des Landes zu vermeiden, so der Staatschef. Priorität habe nach wie vor die uneingeschränkte Zusammenarbeit mit dem UN-Kriegsverbrechertribunal.
Den Vize-Vorsitzenden der Istrischen Demokratischen Partei, Damir Kajin, freut unterdessen die Tatsache am meisten, dass Kroatien nun endlich den «Balkan-Express» verlasse. Zwar könne sich das Land geografisch vom Balkan nicht lösen, aber in politischer Hinsicht sei dies nun die definitive Abnabelung, sagte der Politiker gegenüber «Hina». Neben zahlreichen Problemen wie den dringend erforderlichen Reformen des Staatsapparates und der Wirtschaft halte er einen Wandel in der Mentalität der Menschen nicht weniger wesentlich, betonte er. Zu lange habe eine Politik dominiert, dass sich das Land selbst genügen könne und Europa nicht brauche. «Doch wir sind ein kleines, armes Land, zwar wunderschön, aber wir können uns nicht einmal über unsere eigene Vergangenheit einig werden – geschweige denn über unsere Zukunft», so Kajin.
Mit dem EU-Beitritt werde sich das Leben für jeden einzelnen Bürger deutlich ändern, spekuliert die Tageszeitung «Novi List» aus Rijeka. Schon heute habe die Europäische Kommission angekündigt, dass Kroatien seine Null-Prozent-Mehrwertsteuer für bestimmte Lebensmittel wie Brot und Milch, aber auch für orthopädische Hilfsmittel, abschaffen müsse. Die gesetzliche Mehrwertsteuer, die in dem jungen Adriastaat 22 Prozent beträgt, war vor wenigen Jahren für Grundnahrungsmittel abgeschafft worden.
Die EU-Skepsis hatte in den vergangenen Monaten zugenommen. Zuletzt sprach sich nur noch ein Drittel aller Bürger für den Beitritt zur europäischen Staatengemeinschaft aus. Eine aktuelle Umfrage der Tageszeitung «Vecernji list» hatte Ende September jedoch ergeben, dass sich Kroatien von seiner «Euroskepsis» langsam erhole: So stimmten 41 Prozent von 900 Befragten pro EU, 37 Prozent dagegen und 22 Prozent waren sich nicht sicher, welches der bessere Weg für Kroatien sei werde. Als Hauptgrund für die Ablehnung der Europäischen Union führte jeder Dritte an, er habe Angst, dass das Land von den größeren Mitgliedsländern «versklavt» werden könne.