Kroatien

„Europa weiß von Auschwitz, aber nicht von Valpovo“

Valpovo – eine unscheinbare Provinzstadt in der ostslawonischen Tiefebene, in der alte Habsburger Baumeister ihre architektonische Handschrift hinterlassen haben. Ein Feldweg mit tiefen Senken führt von der Hauptstraße zu einer Wiese, die niemand mehr mäht. Sanfte Erdwälle durchbrechen das satte Grün, am Horizont recken sich Maisstauden in den wolkenlosen Himmel. Nikolaus Mack klettert aus dem Wagen, geht einige Schritte nach rechts, zeigt nach links. Für einen kurzen Augenblick verwandelt sich Vergangenes in Gegenwärtiges, einzig durch seine Worte und Gesten. Kein Schild, kein Hinweis am Wegrand klärt über die vergessene Wiese auf. Hier reihten sich einst 14 Baracken nebeneinander, umzäunt von kaltem Stacheldraht, der von hohen Wachtürmen durchbrochen war. Sieben Baracken teilten sich Frauen und Kinder, in den übrigen waren die Männer untergebracht, erinnert sich Mack. „Europa weiß von Auschwitz, aber nicht von Valpovo“, sagt der Jurist, der heute als Abgeordneter im kroatischen Parlament die Interessen der nationalen Minderheiten vertritt.

Valpovo – hier befand sich das größte Arbeitslager der deutschen Minderheit in Kroatien. Gut jeder Dritte der 3.000 Insassen überlebte die Strapazen nicht. Hunger, Kälte, Typhus und körperliche Erschöpfung rafften bis Mai 1946 mindestens tausend Menschenleben dahin. Zweistöckige Holzpritschen, durch deren Ritzen Wanzen schlüpften, Läuse auf dem Kopf und Flöhe in der Kleidung, an guten Tagen 150 Gramm Brot und eine wässrige Suppe aus Erbsenschalen – Lageralltag in Valpovo. Hingerichtet wurde kaum jemand, vielmehr würde „der Kessel“ sein übriges tun, so der feste Glaube der Lagerkommissare. „Der Kessel“ stand als Synonym für unerbittlichen Hunger, der die Insassen allmählich aufzehrte.

Nur wenige Schritte vom einstigen Lagergelände entfernt, erhebt sich eine ockerfarbene Kapelle aus dem Schatten eines mächtigen Baumes. Die Zacken eines schwarzen Metallzaunes halten neugierige Besucher fern. Der Sakralbau versprüht den maroden Charme längst vergangener Tage. Ein Ort, der wie geschaffen scheint für Macks Visionen: Eine Gedenkstätte mit Informationen und Stellwänden, schwebt dem Politiker hier vor. Eine Art Wallfahrtsstätte, damit die Nachwelt Valpovo nicht vergesse.

„Mir sen Schwobelojt“ – die deutschen Kolonisten in Slawonien

Als die Kindheit für Nikolaus Mack aufhörte, war er gerade mal acht Jahre alt. Der Frühling war ins Land gezogen und Deutschland hatte nur wenige Tage zuvor kapituliert. Die Soldaten der jugoslawischen Volksarmee hatten begonnen, die Häuser der deutschen Minderheit systematisch zu durchkämmen. Gut 200.000 Jugoslawiendeutsche lebten unmittelbar nach Kriegsende noch im Land, während beim Zensus 1931 fast eine halbe Million gezählt wurde. Die meisten dieser sogenannten Volksdeutschen waren bereits Ende 1944 ins Deutsche Reich geflohen, als sich Hitlers Truppen vom Balkan zurückzogen. Die anderen waren geblieben, da sie sich nicht für die Greueltaten der Nationalsozialisten verantwortlich fühlten. Als Titos Soldaten Familie Mack abholten, blieb ihnen gerade mal eine Viertelstunde Zeit, um das Nötigste einzupacken. So fand sich Nikolaus Mack in einem viel zu warmen Winteranzug wieder, als er im Arbeitslager Valpovo ankam. Die dicke Kleidung habe ihn vermutlich gerettet, sagt er heute. Daß er sie ein Jahr lang nicht wechseln würde, konnte er zu jenem Zeitpunkt noch nicht ahnen.

„Mir sen Schwobelojt“, sagt Mack. Damit spielt er auf seine Urväter an, die einst aus Württemberg, Baden oder Lothringen in die östlichen Regionen des Habsburger Reiches gesiedelt sind. Nach dem Rückzug der osmanischen Heere sollten sie den Boden in der Batschka, Baranja oder Slawonien urbar machen und das Land modernisieren. Sie waren Winzer, galten als fleißige Handwerker, bestellten die Felder und lebten in deutschen Siedlungen wie Hirschfeld oder Josephsdorf in Slawonien. Ihre Häuser hatten immer eine „Schpajsa“ (Speisekammer) und einen „Hajboden“ (Heuspeicher), mit den kroatischen Nachbarn verband sie ihr überwiegend katholischer Glaube.

Der Zweite Weltkrieg setzte dem friedlichen Miteinander ein Ende: Die Deutschen in Jugoslawien wurden kollektiv schuldig gesprochen und der Kollaboration mit den Deutschen bezichtigt. Über Nacht wurden sie zu Staatsfeinden, die keine Rechte mehr hatten. Der Beschluß des Antifaschistischen Rates der Volksbefreiung (AVNOJ) vom November 1944 hatte fatale Folgen: Der Besitz der Deutschen wurde konfisziert und ging in Staatseigentum über. Durch die Kollektiventeignung vereinfachte sich das junge Jugoslawien die Durchführung einer Agrarreform. Wer nicht nachweisen konnte, daß er sich dem Nationalsozialismus widersetzt hatte und in der Partisanenbewegung aktiv war, wurde sofort in ein Lager überführt. Manchmal genügte es schon, einen deutschen Nachnamen zu haben.

Betrunkene Kutscher verloren die Toten auf dem Weg zum Friedhof

Sie heißen Burger, Hettich oder Valter: Die Lageropfer, die in der hinteren Ecke des Friedhofs von Valpovo bestattet wurden. Auf Deutsch erinnern mit abgeblätterten Namenstafeln schlichte Metallkreuze an die Toten. Sie wechseln sich ab mit Grabmälern aus Stein, die Nachkommen der Lagertoten erst viel später aufstellen ließen. Die meisten Todesopfer bleiben jedoch anonym. Ihre Leichname wurden in Massengräber geworfen, meist nachts, damit die örtliche Bevölkerung nicht allzuviel über das Sterben im Arbeitslager erfuhr. Nur manchmal, erzählen sich Augenzeugen, wenn ein betrunkener Kutscher einen Toten unterwegs verloren hatte, wurden die Einwohner am nächsten Morgen mit dem Massensterben vor der eigenen Haustür konfrontiert.

Von Valpovo berichten die Medien nicht. Nur einmal, als mehr als 600 Personen auf dem Lagerfriedhof zusammen kamen, horchten die Journalisten auf. Die Volksdeutsche Gemeinschaft aus Osijek hatte sich jahrelang für das Projekt engagiert: Eine Stellwand mit eingekerbten Furchen, die den Ackerbau der Volksdeutschen symbolisieren soll – das Mahnmal stifteten Donauschwaben aus der ganzen Welt. Daß bei der Einweihung im Oktober 2003 auch ranghohe kroatische Politiker anwesend waren, empfindet Mack als Genugtuung. „Das war uns wichtig, die Unterstützung von politischer Seite, aber auch durch die Bevölkerung“, sagt er.

Der letzte Zug in Richtung Westen

Auf dem Lagerfriedhof riecht es nach frisch gemähtem Gras, ein Blumengesteck ziert das Mahnmal, ein Grablicht flackert in der Mittagssonne. Die Grabpflege hat Hans Fuderer übernommen, von allen nur „Hansik“ genannt. Gemeinsam mit seinem Sohn Rudolf betreibt er eine der größten Gärtnereien in Slawonien, beliefert sogar die kroatischen Küstenstädte mit Blumen. Fröhlich schmettert „Grüß Gott“, was ein wenig bayrisch anmutet und präsentiert stolz seinen „typisch deutschen“ Steingarten in der Hofeinfahrt. Fuderer durchlebte als Jugendlicher die Hölle des Arbeitslagers Valpovo, konnte jedoch flüchten und bei Verwandten Unterschlupf finden. Ein Risiko, denn das Verstecken von Flüchtigen wurde streng bestraft.

Nur zwei, drei Tage entschieden über „Hansiks“ weiteres Schicksal: Gemeinsam mit gut 800 Inhaftierten aus den umliegenden Lagern fand sich der Junge in einem überfüllten Güterzug in Richtung Österreich wieder. Während der erste Transport mit Jugoslawiendeutschen noch durchgelassen wurde, ließen die Österreicher mit Unterstützung der Alliierten die nachfolgenden Züge stoppen. Das Land kämpfte selbst mit immensen wirtschaftlichen und sozialen Problemen und sah sich nicht in der Lage, mehrere Hunderttausend Flüchtlinge und Vertriebene aufzunehmen. Der Transport mußte umkehren. Sieben Tage dauerte die Fahrt zurück nach Slawonien, über Ljubljana und Zagreb. Hunger und Durst forderten viele Tote. „Hansik“ überlebte, doch er mußte erneut ins Arbeitslager Valpovo zurück. Die Deutschen sollten so lange in den Lagern bleiben, „bis die Möglichkeit für ihren Abtransport gegeben sei“, schreibt der Historiker Vladimir Geiger in seiner Monographie über das Arbeitslager Valpovo.

Worüber die jugoslawischen Schulbücher schwiegen

Geiger gilt als führender Experte in Kroatien, der sich mit dem Schicksal der deutschen Minderheit auseinandersetzt. Der Geschichtswissenschaftler gehörte zu den ersten, die das jahrzehntelange, staatlich angeordnete Schweigen durchbrachen und öffentlich darüber redeten. Viereinhalb Jahrzehnte war das Thema tabu und wurde in keinem Schulbuch erwähnt, sagt Geiger. Berichte von Augenzeugen, die Heimatverbände im Ausland herausgegeben hatten, wurden als unwahre Propaganda abgetan. Als Geiger im Dezember 1989 sein erstes Interview gab, sei er von eingefleischten Partisanen als Lügner bezeichnet worden. Geiger, der selbst deutsche Wurzeln hat, zeigt sich kritisch im Hinblick auf die geschichtliche Aufarbeitung: Er bemängelt vor allem schlechte Sendeplätze und Rezensionen, die Bücher zum Thema schon mehrfach als „pronazistisch“ eingestuft hätten.

Das öffentliche Bewußtsein in Kroatien scheint im Hinblick auf die Jugoslawiendeutschen gespalten: „Bis heute sagen einige, es würde ihnen recht geschehen, während andere immer noch nichts davon wissen oder es nicht wahrhaben möchten“, sagt Geiger. Vor allem einstigen Kommunisten wiederstrebt es, ihre früheren Parteigenossen durch den Exodus der Deutschen in schlechtes Licht zu rücken. Hoffnung mache jedoch, daß der junge kroatische Staat Forschungen über die Volksdeutschen aktiv unterstütze – wie etwa Geigers neues Buchprojekt über das deutsche Dorf Krndija in Slawonien, in dem später auch ein Lager eingerichtet wurde.

Als die Deutschen von der ethnischen Landkarte Jugoslawiens verschwanden

Das Arbeitslager in Valpovo wurde im Mai 1946 aufgelöst. Sei es aus Protest des Internationalen Roten Kreuzes über die unzumutbaren hygienischen Zustände oder aus anderen Gründen gewesen, über die nur spekuliert werden kann. Die überlebenden Volksdeutschen bekamen Entlassungsscheine und mußten an ihre früheren Wohnorte zurückkehren – ohne sich jedoch ihren Häusern nähern zu dürfen, denn dort waren längst schon Kolonisten aus anderen Landesteilen angesiedelt worden.

Die Entlassungspapiere machten die Deutschen von Valpovo längst nicht zu freien Bürgern: Manche wurden in umliegende jugoslawische Lager übergeführt, von denen die meisten erst 1948 aufgelöst wurden, andere mußten sich zur dreijährigen Zwangsarbeit verpflichten. Und manche fanden sich nach Schauprozessen mit falschen Zeugenaussagen im Gefängnis wieder. Ab Anfang der fünfziger Jahre ermöglichte das Rote Kreuz den Überlebenden die Ausreise nach Deutschland. Mehr als 87.000 Jugoslawiendeutsche siedelten bis Mitte der achtziger Jahre in die Heimat ihrer Vorfahren aus. Wer blieb, paßte sich an. Parteizugehörigkeit und die Bekleidung von Ämtern blieben den Donauschwaben nicht verwehrt – doch die Erinnerung an Valpovo und die anderen 70 Lager im Nachkriegsjugoslawien wurde niemals laut ausgesprochen. Selbst in der eigenen Familie schwieg man über das Geschehene.

Heute leben etwa 3.000 Angehörige der deutschen Minderheit in Kroatien – oft erinnern nur noch die Namen an ihre Wurzeln. Die meisten haben die Sprache ihrer Ahnen längst vergessen. Ebenso, wie sie eines Tages Valpovo vergessen werden. Noch sind gut 150 Zeitzeugen am Leben, doch irgendwann wird auch der letzte Lagerinsasse verstummen.


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