Armenien

Die Schätze des Matenadaran

Es soll einst in Mittelasien gewesen sein, dass ein Herrscher namens Timur Lenk brandschatzend durch die Lande zog. Von den armenischen Bewohnern des kleinen Dorfes Gosch habe er bei einem seiner Raubzüge alles Gold gefordert. Doch die sturen Dörfler wollten lieber den Tod als ihr Edelmetall herausrücken. Da befragte der Tyrann einen Weisen, was für diese Armenier wohl das Wertvollste sei, das er ihnen nehmen könne. Der Weise antwortete, nichts sei für die Armenier wertvoller als ihre Bücher. Und so begann Timur, alle Bücher aus dem nahen Kloster des Dorfes zu verbrennen. Um die kostbaren Bücher zu retten, sollen die Bewohner von Gosh tatsächlich mit all ihren Goldschätzen herangestürzt sein, sobald die ersten Flammen an den kostbaren Handschriften leckten.

Heute ist kaum zu entscheiden, was an dieser Legende Dichtung und was Wahrheit ist. Tatsache ist, dass die Armenier ihre Bücher und Handschriften über all die Jahrhunderte und Wirren der Zeit, während aller Kriege, Vertreibungen und dem türkischen Genozid retteten. Und so kommt es, dass sich in der Hauptstadt des heutigen Armenien, in Yerevan, eine der wichtigsten und wertvollsten Handschriftensammlungen der Welt befindet. Sie wäre es wert, ins Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen zu werden.

Wer in die Bibliothek für alte Handschriften, Matenadaran genannt, möchte, muss den breiten Prachtboulevard, der Yerevan in zwei Hälften teilt, bis zum Ende gehen. Dort, direkt vor dem Berg Hagthanak sitzt jener Mann, dem die Straße ihren Namen verdankt: In Stein gehauen und überlebensgroß bewacht Mesrop Maschtoz den Eingang zum Matenadaran. Und gleich hinter ihm, auf einer Steinstehle, befindet sich die Erfindung, die ihn zum Nationalhelden machte.

Alphabet aus 36 kleinen Soldaten

Um 400 wurde der Mönch vom damaligen Oberhaupt der armenischen Kirche, Sahak I., beauftragt, eine eigene armenische Schrift zu schaffen. Den Kirchenoberen plagte die Sorge, dass die armenische Sprache, bis dahin nur Haus- und Hofsprache des einfachen Volkes, aussterben und damit auch die armenische Nation verschwinden könnte. In der armenischen Kirche selbst wurde bis dahin Griechisch und Syrisch gesprochen. Maschtoz erfand ein System aus 36 Zeichen und machte die Armenier zu einem der wenigen Völker mit einem eigenen Alphabet. Das Aussehen der Buchstaben ließ einen armenischen Dichter einmal bemerken, dass die Schriftzeichen ein kleine Armee von 36 Soldaten bilden, die nun schon über 1600 Jahre die nationale Identität der Armenier verteidigen.

Hinter der großen, schweren Tür des Matenadaran leuchten dem Besucher die Farben Jahrhunderte alter Handschriften entgegen. Es sieht aus, als hätten ihre Schöpfer ihr Werk nur für ein paar Augenblicke allein gelassen, der Ausstellungsraum ist einem armenischen Kloster nachempfunden. Hier arbeitet Lina Piradova. Die kleine Frau zieht eine Schleppe deutscher Touristen hinter sich her und wirbelt in einer Geschwindigkeit durch die Jahrhunderte, das einem schwindlig wird: "Ich begrüße sie im Institut für alte Handschriften namens Matenadaran. Das ist ein altarmenisches Wort und bedeutet Aufbewahrungsstätte. An diesem Ort befinden sich heute zahlreiche aus dem Syrischen und Griechischen übersetzte Werke, deren Originale seit Jahrhunderten verschollen sind. Deshalb haben viele der im Matenadaran vorhandenen uralten Kopien selbst den Status von Originalen bekommen. Unter diesen Werken befinden sich auch die "Hymnen" des Aristoteles oder die "Kategorien" des Bischofs Eusebio von Caesarea. Schon im 5. Jahrhundert wurden in armenischen Klöstern Malereischulen eingerichtet, in denen die Künstler Kopien, Abschriften und Übersetzungen mit Miniaturen verzierten."

Handschrift aus dem Avag-Kloster, 14. JH.

Filigrane Ornamente, strahlende Farben

Es sind vor allem diese Miniaturen, die dem Betrachter angesichts der filigranen Kunstfertigkeit ihrer Schöpfer den Atem anhalten lassen und die den Ruhm des Matenadaran begründen. Doch nicht nur religiöse Schriften, auch Werke der Kosmologie und Naturwissenschaften sind reich verziert. Lina Piradova zeigt den Besuchern die realistischen Darstellungen des wohl besten armenischen Miniaturmalers des Mittelalters, Thoros Roslin, aus dem Jahr 1286 – 400 Seiten strahlende Farben und üppige Ornamentik. Die Besucher ziehen vorbei an Manuskripten aus allen Jahrhunderten. Am Edschmiadsiner-Evangelium aus dem Jahr 989 ebenso wie dem ältesten in armenischer Sprache gedruckten Buch von 1512 oder der ersten Zeitung, die 1794 im indischen Madras gedruckt wurde. Das größte und schwerste Exemplar der Ausstellung, das sogenannte Muscher Homiliar aus dem Jahr 1200, wiegt 34 Kilo. 700 Kälbern, erklärt Lina Piradova ihren Besuchern, musste das Fell gegerbt werden, damit dieses Werk geschaffen werden konnte.

Von außen wirkt das Matenadaran, das einem antiken Tempel ähnelt, groß und wuchtig. Die Ausstellung hingegen ist eher klein und fein. Den größten Teil seines Schatzes hütet das Matenadaran in atomsicheren Bunkern des Berges Hagthanak und streng gesicherten Archiven. Mit seinen über 120.000 handschriftlichen Archivdokumenten ist es eine einmalige Forschungsstätte für Wissenschaftler.

Das Geld für die Restauration von Büchern ist knapp

Doch die Sammlung hat ein Problem: Das kleine Armenien ist arm und der Regierung scheint das Schicksal der Bücher egal. Während ähnliche Sammlungen in anderen Ländern über ein Millionenbudget verfügen, hat die Leiterin der Restaurationsabteilung, Dr. Gajaneh Elijasijan im Jahr nur wenig mehr als 10.000 Dollar zur Verfügung.

Jeden Tag fährt die Frau mit den zum Pferdeschwanz gebundenen schwarzen Haaren in einem ächzenden Elevator hinauf ins Allerheiligste. "Unsere Handschriften haben einen langen und schwierigen Weg hinter sich. Es sind Originale, die durch alle Wirren der Jahrhunderte vor der Vernichtung bewahrt wurden. Auch während des Genozids durch die Türken nahmen viele Armenier Bücher und Handschriften aus den Kirchen und Klöstern mit auf die Flucht durch die syrische Wüste. Diese Handschriften haben sozusagen alle Qualen ihrer Retter miterlitten und gelangten auf abenteuerlichen Wegen zu uns. So brachte ein Kollege einmal zwei Bücher aus Tiflis mit. Sie sahen krumm und vertrocknet aus, als wären sie in einen Fluss geworfen und nach Wochen wieder herausgefischt, ausgewrungen und dann in die Sonne zum Trocknen gelegt worden. Wir haben sie restaurieren können und es stellte sich heraus, dass es sich um die einzigen beiden Ausgaben der 1685 in Amsterdam gedruckten "Allgemeinen geografischen Karte" handelte, die die gesamte damals bekannte Welt wiederspiegelte. Aber anders als diese beiden Exemplare haben wir viele Handschriften hier, die in einem Zustand sind, der mir geradezu körperliche Schmerzen bereitet", sagt Gajaneh Eijasijan. "Es ist, als wären meine Kinder todsterbenskrank und ich muss die Entscheidung treffen, welches ich sterben und welches ich leben lasse."

Unterstützung aus Japan und Deutschland

Inzwischen kommt Hilfe aus dem Ausland. Eine japanische Stiftung bezahlte die Einrichtung eines Saales, in dem nun mit modernen Techniken und Spezialpapieren die wertvollsten Stücke restauriert werden können. Gerade die Spezialpapiere sind sehr teuer, weil sie Eigenschaften jenes Pergaments aufweisen, aus dem die meisten der alten Handschriften und Bücher bestehen.

Die Herstellung dieses Pergaments war damals schon eine schwierige Sache: Kalbshaut musste gespannt, gereinigt, entfettet und geschliffen werden. Erst dann entstand feines, weißes Pergament. Dieses aber nahm die Farben nicht so auf, wie unsere heutigen Papiere. Es war schwierig, darauf zu schreiben oder zu zeichnen. Erst wer dies wisse, erklärt Dr. Elijasijan, könne erahnen, welche Leistung es war, aus Büchern solche Kunstwerke zu machen.

Auch aus Deutschland kommen jedes Jahr ehrenamtliche Helfer, die mit handwerklicher Finesse und ihrem Spezialwissen die Mitarbeiter des Matenadaran bei ihrer schwierigen Arbeit unterstützen. Professor Robert Stähle aus dem baden-württembergischen Aichwald arbeitet gerade an den Einbandschließen eines Evangeliars aus dem 11. Jahrhundert. An einem anderen Tisch versucht Margret Jaschke vorsichtig, restaurierte Pergamente in einen Einband aus dem 13. Jahrhundert einzupassen. "Wenn ich diese Blätter in der Hand halte", sagt die gelernte Buchbinderin, "dann spüre ich regelrecht, wie mich ein Hauch der Ewigkeit anweht. Als ich vor einiger Zeit einen Kodex aus dem Jahr 1056 in der Hand hielt, kam mir ein seltsamer Gedanke. Diese Seiten hier hat jemand bereits vor fast eintausend Jahren in der Hand gehalten. Und dies ließ in mir eine ungeheure Ehrfurcht entstehen. Denn diese Schriften sind wie eine direkte Verbindung der Menschheit mit ihrer Vergangenheit. Sie bergen für mich einen Teil der Seele der Menschen, die an ihnen gearbeitet, in ihnen gelesen und sie durch die Zeit transportiert haben."

Wissen, von Menschendhand zu Menschenhand


Im Gegensatz zu vielen mittelalterlichen Handschriften in Zentraleuropa zeichnen sich die armenischen durch eine Besonderheit aus. Am Ende fast jeder Handschrift findet sich ihr exakter "Lebenslauf" mit Informationen darüber, von wem, wann und wo an ihr gearbeitet wurde, durch wessen Hände sie ging. Verzeichnet ist beispielsweise auch, unter welchen Umständen sie vor Plünderern in Sicherheit gebracht wurde, beispielsweise welcher Mönch sie wo versteckte. So ermöglichen die Schätze des Matenadaran oft Detail getreue Rekonstruktionen geschichtlicher Ereignisse – für Historiker ein geradezu unerschöpflicher Quell der Erkenntnis.

Eine Etage tiefer, im Handschriftensaal ist es still. Manchmal raschelt Pergament, wenn einer der Wissenschaftler die Seiten mit einem dünnen Holzstäbchen umblättert. Am Fenster sitzt eine in ihre Arbeit versunkene junge Frau. Zu ihren Arbeitsutensilien gehören Pinsel mit nur einem einzigen Haar, ein streng riechendes Gläschen, Brotkrumen und ein kleines Schächtelchen. Wenn sie es öffnet, ergießt sich ein goldener Glanz über den Tisch. Vor ihr, in einer Halterung, steht eine reich verzierte, aber stark beschädigte Bibel aus dem 14. Jahrhundert.

Im Matenadaran hat sich die Kunstfertigkeit der alten Meister bis heute erhalten, weil die Handschriften hier noch immer so kopiert werden, wie zu Zeiten des Mittelalters. Anders als bei Reproduktionen müssen beim Kopieren jeder Punkt, jede Linie exakt an die richtige Stelle gesetzt werden, die Kopie darf sich nicht vom Original unterscheiden. Je länger sie sich mit einem Original oder der uralten Kopie eines längst verschollenen Originals befasse, umso mehr wachse ihr Respekt, sagt die junge Frau. Alwina Borosjan ist Meisterkalligraphin.

Sie erkennt mit einem Blick, woher eine Handschrift stammt, ob aus den Malschulen von Ani oder Vaspurakan am Vansee in der heutigen Türkei, aus Nachitschewan, heute eine aserbaidschanische Enklave zwischen Armenien und der Türkei oder dem Kleinkönigreich Kilikien des 13. Jahrhunderts. "In Kilikien", sagt sie und zeigt auf einen Heiligen in der Bibel vor ihr, "wurden die Falten der Kleidung mit Goldstreifen überzogen. Diese Art der Reliefvergoldung verleiht dem Buch einen besonderen Glanz und weist auf den Reichtum seines einstigen Besitzers."

Knoblauch und Goldstaub

Ruhig taucht Alwina einen Pinsel in die streng riechende Tinktur aus Knoblauchsaft und trägt sie vorsichtig in einem Bereich auf, den sie mit dem Ein-Haar-Pinsel gekennzeichnet hat. Sie feuchtet Brotkrumen an, knetet sie zu einer Kugel, um diese in das Schächtelchen mit dem Goldstaub zu tauchen. Dann tupft sie das Gold vorsichtig auf die zuvor präparierte Fläche. Der Knoblauchsaft wirkt nun wie Leim, er hält das Gold, desinfiziert und konserviert zugleich das Bild. Manchmal benötige sie zwei oder gar drei Paletten, so viele Farbtöne entdecke sie im Original, erklärt Alwina. Und es gebe Farben, bei denen man sehr lange brauche, um den Ton zu erfassen. Vor allem sei oft nicht klar, woraus diese Farben bestehen - dann müssten die Spezialisten ran.

Zu diesen Spezialisten gehört auch Armen Sahakijan. Sein kleines Labor liegt außerhalb des Matenadaran, versteckt hinter einer Dornenhecke und geschützt durch eine Stahltür in einer Höhle im Berg Hagthanak. Er sei Mitarbeiter der medizinischen Abteilung und beschäftige sich hauptsächlich mit der Herstellung der Materialien und Farben, die die Restauratoren benötigen. Armen Sahakijan ist ein schmaler Mann, um seine Augen liegen Schatten. Doch sein Blick leuchtet, wenn er über die Zeilen des armenischen Dichters Grigor Narekazi aus dem 11. Jahrhundert fährt, dessen wunderschöne Klagelieder heute zum unbekannteren Teil der Weltliteratur gehören:

Nicht mit einem Lied der leeren Worte wirst Du verherrlicht / Vielmehr sei diese kleine Bittschrift ein Anlass für Deine große Rettung / Zeile um Zeile wob ich diese Klagelieder / verspottete als Gefährte, als Kenner jedweden Leids / Bild um Bild die Leidenschaften / … / Mit der Kraft deiner Seele wagte ich es niederzuschreiben / die Vielfalt der Begierden ….
(Grigor Narekazi, Buch der Klagelieder, Übersetzung: Raffi Kantian)

Das Labor gleicht eher einer Tropfsteinhöhle. Um den Staub zu binden, sind die Wände mit Bienenwachs bedeckt. In einem Schrank stehen Erlenmeyerkolben und seltsam leuchtende Phiolen, in einem anderen alte Folianten mit Karten und schwer zu entziffernden Texten. Armen nimmt ein Buch in die Hand, vorsichtig, als könnte es herunterfallen und wie chinesisches Porzellan in tausende Teilchen zerspringen. "Diese Handschrift wurde für eine kilikische Königsfamilie hergestellt", erklärt er. "In ihr habe ich nach langem Suchen Rezepte zur Herstellung der alten Farbtöne entdeckt. Nach ihnen gewinne ich nun aus den beschriebenen Pflanzen oder getrockneten Insekten die dafür notwendigen Stoffe. Glücklicherweise haben die Verfasser auch beschrieben, wo sich welche Pflanzen, Mineralien oder Tiere finden lassen."

Armen Sahakijan in seinem Labor (Foto: Mirko Schwanitz)

Das armenische Rot

Das Buch ist ein Glücksfall, denn in allen armenischen Handschriften gibt es ein ganz besonderes Rot. Dieses Rot stammt von "kamir vord", einem roten Wurm, der in bestimmten Laubbäumen zu finden war, heute aber sehr selten ist. Daher wurde es immer schwieriger, wirkliche Kopien anzufertigen. Es war Armen Sahakjans Aufgabe, einen Ersatz zu finden: "Heute gewinnen wir das für die Handschriften so typische Rot aus der Koschinill-Laus."

Diese Läuse leben tief unter der Erde und kommen nur einmal im Jahr für wenige Stunden an die Erdoberfläche. Lange Zeit war es ein gut gehütetes Geheimnis, wo man sie findet. Doch Armen wurde auch hier in einem der alten naturwissenschaftlichen Bücher fündig. Seitdem ist er im Herbst nicht im Matenadaran anzutreffen, sondern in der Ararat-Ebene. Wo genau, das wollte er nicht verraten.

Die Mitarbeiter des Matenadaran kämpfen gegen die Zeit und den unaufhörlichen Verfall. Mit viel zu wenig Geld und viel zu wenig internationaler Unterstützung versuchen sie zu retten, was zu retten ist. Laborleiter Armen Sahakjan weiß ebenso wie die deutsche Helferin Margret Jaschke, dass ohne baldige Hilfe aus dem Ausland viele Handschriften verloren sein werden. Und mit jeder verlorenen Handschrift, da ist sich Margret Jaschke sicher, würde auch ein Teil des Gedächtnisses der Menschheit verschwinden.


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