Litauen

Das Baltikum gibt es gar nicht


Vilnius (n-ost) – Das Baltikum als Reisziel boomt, spätestens seit Billigfluglinien Direktverbindungen mit deutschen Flughäfen eingerichtet haben. Viele Deutsche nutzen die günstige Gelegenheit zum Wochenendtrip, wissen aber nur wenig über Litauen, Lettland und Estland – und darüber, was sich anzusehen lohnt. Hier ein Kurzratgeber für Spontanreisende:

„Sag mal, Du kennst Dich doch in Litauen aus – meine Frau hat mir ein Wochenende in Riga geschenkt, was kann man sich denn da anschauen?“ So oder ähnlich fragen Kollegen, Bekannte und Verwandte seit einigen Monaten immer wieder. Seit „Rigalein“ und „Tallinchen“ zum Schnäppchenpreis von deutschen Flughäfen aus angeflogen werden, boomt das Baltikum. Da ist es schon gut zu wissen, dass Litauen das Land unten links mit der Hauptstadt Vilnius ist, dass von Riga aus Lettland (Mitte) regiert wird und dass Tallinn und Reval dasselbe, nämlich die Hauptstadt von Estland (oben rechts) sind. Und nein, Litauisch, Lettisch und Estnisch sind keine Dialekte des Russischen. Man braucht im Sommer auch keinen Pelzmantel, kann in Restaurants ohne Angst vor Vergiftungen speisen und muss keineswegs sein eigenes Trinkwasser mitnehmen.

Preiswerte Airlines wie Air Baltic (von Berlin-Schönefeld, Hamburg, Köln/Bonn, Stuttgart und München nach Riga und Vilnius), Easyjet (von Berlin nach Riga und Tallinn) und Ryanair (von Frankfurt/Hahn nach Riga) fliegen direkt ins Baltikum, zusätzlich zu Lufthansa und den nationalen Airlines. Auch Anbieter von Pauschalreisen haben das Baltikum entdeckt. Doch der Trend geht weg von der rundum betreuten Busreise zu individuell organisierten Touren. Zwar bieten etliche spezialisierte Reiseveranstalter auch dafür ihren Service an – den kann man sich mit ein bisschen Organisationstalent aber sparen: Gute Hotels sind im Internet, Mietwagenfirmen finden sich in allen großen Städten, die Bahn- und Busverbindungen sind ausgezeichnet.

Es mag mit dem EU-Beitritt im Mai 2004 zu tun haben. Um mehr als 25 Prozent stiegen Besucher- und Übernachtungszahlen, in Litauen sogar um 45 Prozent. 100.000 Deutsche, schätzen Tourismusexperten, haben im Jahr 2004 Estland besucht, 120.000 Lettland und 150.000 Litauen. Die meisten machten gleich in allen drei Ländern Station. Das bietet sich für den ersten Besuch auch an, denn sie sind zusammen kaum halb so groß wie Deutschland, und eine panbaltische Tour bringt einen wichtigen Lerneffekt: Das Baltikum gibt es gar nicht. Litauer und Letten sprechen baltische Sprachen, Esten eine finno-ugrische; Litauer sind katholisch, Letten und Esten protestantisch, Litauen blickt eher nach Polen und Deutschland, Lettland schaut nach Deutschland und Schweden, und die Esten sind stark mit Finnland verbunden.

Auch die Hauptstädte, wichtigste Sehenswürdigkeiten der Länder, unterscheiden sich, auch wenn alle drei auf der Unesco-Weltkulturerbe-Liste stehen: Vilnius wird wegen seiner Barockgebäude aufgeführt, Riga wegen der Jugendstilsubstanz und Tallinn als mittelalterlicher Hanse-Hafen. Was genau sich anzusehen lohnt, lässt sich mit einem Abstecher zum nächsten Zeitungskiosk herausfinden: „Vilnius (oder Riga oder Tallinn) in your pocket“, ein etwa monatlich erscheinendes Reiseführer-Heft samt Restaurantguide und Kulturprogramm, listet die offensichtlichen Programmpunkte ebenso auf wie die Geheimtipps (auch im Internet: www.inyourpocket.com).

Nach den Hauptstädten stehen die Kur- und Badeorte an der mehr als 3000 Kilometer langen baltischen Ostseeküste auf dem Reiseprogramm ganz oben. In Litauen: Nida mit der großen Sanddüne und dem Thomas-Mann-Haus auf der Kurischen Nehrung, Klaipeda (Memel) samt Ännchen-von-Tharau-Brunnen und inbrünstig singenden deutschen Seniorenreisegruppen. In Lettland: Liepaja mit seiner Altstadt aus bunten Holzhäusern und Jurmala bei Riga. In Estland: Pärnu im Westen Estlands. Hier bereitet sich ein Kur- und Gesundheitstourismus unter dem Label „Wellness“ auf seine Wiederauferstehung vor, der schon im 19. Jahrhundert Deutsche und Russen en masse hierher brachte. Sehr zu empfehlen ist auch die große estnische Insel Saaremaa – Natur pur. Gewarnt sei vor Palanga in Litauen, dem Balten-Ballermann.
Für diese Vier- und Drei-Sterne-Attraktionen ist sicher mehr als eine Woche nötig. Aber erst danach wird es spannend: Hauptstädte und Kurische Nehrung sind voll erschlossen, ausländische Nummernschilder zahlreich. Dagegen schlummert der größte Schatz des Baltikums noch von (West-)Touristen kaum berührt in den zwölf Nationalparks: düstere Wälder, sanft rollende Moränenlandschaften, blinkende Seenplatten, saubere Flüsse. Zu Sowjetzeiten standen hier Jugendherbergen, säumten Übernachtungshütten für Kanu-Reisende die Flüsse, waren die Zeltplätze an den Seen in Schuss. Nach der Wende schlummerte diese Form des Reisens ein, aber viele sind in den vergangenen zwei, drei Jahren mit ein bisschen Farbe und ein paar Brettern wieder in Schuss gebracht worden. Örtlichen Medien zufolge waren ländliche Übernachtungsmöglichkeiten – auch die wenigen Ferien-auf-dem-Bauernhof-Stationen – im Sommer 2005 restlos ausgebucht; bislang steigen hier aber vor allem Einheimische und Reisende aus Nachbarländern ab.

Aktivurlaub mit Paddeln, Wandern, Reiten und vor allem Radfahren bieten sich an in den flachen Ländern an der Ostsee. Selbst in Aukstaitija, jenem Teil Litauens, der übersetzt „Hochland“ heißt, sind keine dramatischen Steigungen zu bewältigen. Eine gute Karte empfiehlt sich allerdings: Immer noch sind etliche Nebenstraßen nur geschottert, was zwar Mountainbiker goutieren, das Tourenradeln mit vollem Gepäck aber arg mühselig macht. Örtliche Vereine wie BalticCycle (www.bicycle.lt, auf Englisch und Deutsch) kennen die besten Touren.

Wer allerdings daran denkt, auf eigene Faust auch die russische Exklave um Kaliningrad (Königsberg) zu erobern, sollte sich wappnen: Ohne Visum kommt hier keiner rein, und dies kann nur in Deutschland besorgt werden.

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Für Service-Kasten:
Informationen zu allen drei baltischen Ländern gibt die Baltikum Tourismus Zentrale in Berlin, Telefon 030/890 090 9; www.baltikuminfo.de. Zur Einreise genügt der Personalausweis. Die Preise für Übernachtungen liegen mittlerweile fast auf Westniveau. Das Essen im Restaurant ist in der Regel deutlich billiger, auch einheimische Produkte in Supermärkten sind preisgünstiger als im Westen. Wer für die Anreise Zeit hat, kann mit der Fähre über die Ostsee, dem Zug oder auch mit dem Auto ins Baltikum fahren. Ein Hinflug nach Riga und ein Rückflug aus Vilnius (oder umgekehrt) eröffnet interessante Reisemöglichkeiten mit Mietwagen oder öffentlichen Verkehrsmitteln.

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