Polen

Das bröckelnde Denkmal Walesa


Warschau (n-ost) - Der weltberühmte Arbeiterführer betritt den Saal in braunen Cordpantoffeln. Er setzt sich ans Kopfende des großen Tisches. "Stellen Sie Fragen! Je schwieriger, desto besser! Nur keine schlüpfrigen, bitte!" sagt er. Sein Schnurrbart ist grau geworden. Oberhalb der Tischkante trägt Lech Walesa Jackett, weißes Hemd und Krawatte. Er rede so, wie es ihm passe, sagt Walesa über sich. So sei er eben. Ein Mann aus dem Volk, den das Schicksal auf die Bühne der Weltgeschichte gestellt hat.

Walesa wurde am 29. September 1943 nahe Bromberg (Bydgoszcz) geboren. Der gelernte Elektriker war bereits 1970 an Streiks auf der Danziger Lenin-Werft beteiligt, die blutig niedergeschlagen wurden. 80 Arbeiter fanden damals den Tod. In den 70er Jahren wurde Wałęsa mehrfach wegen Beteiligung an anti-kommunistischen Aktionen festgenommen und verlor einige Male seine Arbeit. Mit einem Foto fing dann das Wunder an. Tausende Zeitungen haben es gedruckt, es zeigt Lech Walesa, wie er 1980 über die Mauer der Danziger Werft springt. Er wollte zu den streikenden Arbeitern gelangen, ihr Anführer sein. Walesas Sprung war wie ein Funken, der sich entzündete, um ein Lauffeuer zu entfachen, das die sowjetische Herrschaft im Ostblock besiegte.

Das Bild entstand am späten Mittag des 14. August 1980. Jerzy Borowczak, damals 21 Jahre alt, gehörte damals zu den Werftarbeitern. "Wir streikten schon seit morgens um fünf, aber wir brauchten dringend einen Anführer. Walesa kam gegen zehn Uhr morgens. Er war unsere Rettung!" Hatte Walesa verschlafen? "Nein, nein", sagt Borowczak und lacht, "er musste den Geheimdienst abschütteln."

Dass Walesa sich damals an die Spitze der Proteste setzte, den Massen von Arbeitern Mut machte, sie mobilisierte und den Mächtigen zwei Wochen später im Danziger Abkommen wichtige Zugeständnisse abrang, all das hat ihn zum Symbol der Millionen-Bewegung "Solidarnosc" gemacht, die 1989 die herrschenden Kommunisten zur Demokratisierung des Landes zwang. Dafür werden ihm die Polen - jedenfalls die allermeisten - immer dankbar sein. Doch die Liebe zu Lech ist inzwischen stark abgekühlt. Gefeiert wird Walesa heute vornehmlich im Ausland. Zuletzt hatte er während der orangenen Revolution in der Ukraine einen großen Auftritt, als er sich an der Seite des Revolutionsführers Wiktor Juschtschenko den Kiewern zeigte.

Die Liste seiner Ehrungen und Preise ist lang. Renommierte Zeitungen wie das Time-Magazine, die Zeit, die Welt und die Financial Times wählten Walesa 1980/81 zum Mann des Jahres, er erhielt über 100 Ehrendoktorwürden, Landesorden, den Friedensnobelpreis 1983. Vom amerikanischen Kongress wurde er mit stehenden Ovationen begrüßt, der Pabst empfing ihn mehrfach wie einen Sohn.

Doch wer schon am Anfang den Höhepunkt seiner Karriere erreicht hat, für den kann es kaum weiter bergauf gehen. Mit der Wahl zum polnischen Staatspräsidenten im Jahr 1990 brachen fünf Jahre an, in denen er viele Polen enttäuschte. Manche schämten sich gar ihres rustikal holprigen Repräsentanten, der recht selbstverliebt und tapsig wirken konnte. Legendär ist in Polen sein Ausspruch: "Ich bin dafür, und auch dagegen."
Nach einer hektischen Zeit demokratischer und marktwirtschaftlicher Reformen und rasch wechselnder Regierungen verlor Walesa 1995 die Stichwahl knapp mit 48,3 Prozent gegen den Post-Kommunisten Aleksander Kwasniewski. Bei den Präsidentschaftswahlen 2000 wünschten sich dann nur noch ein Prozent der Polen Walesa als Präsident. Der bekannte polnische Publizist Bronislaw Wildstein schrieb kürzlich über Walesa: "Als besonderer, charismatischer Führer taugte er nichts in demokratischen Zeiten. Seine Haltung suggerierte, dass er sich nicht als Repräsentant des Volkes verstand, sondern als dessen Verkörperung."

Auch gibt es Kapitel in Walesas Biografie, um dessen Verdunkelung er bemüht scheint. Hat er in den siebziger Jahren mit dem polnischen Geheimdienst zusammengearbeitet? Gerüchte, er habe als "Bolek" für die Stasi gearbeitet, wurden nie bewiesen. Bei der Gerichtsverhandlung im Jahr 2000 bezeichnete Walesa vorgelegte Kopien von Beweisstücken als Fälschungen. Das Gegenteil konnte ihm nie bewiesen werden.

Das Lech Walesa Institut in der Warschauer Innenstadt will "moralische Werte in der Politik" fördern. Es regelt die zahlreichen Auslandsreisen ihres Namensgebers, der wie ein fliegender Diplomat und Referent weltweit sein Land vertritt, worüber nicht alle Polen eben glücklich sind. Im Bücherregal stehen hunderte grüner Bücher. Es sind alle die gleichen. Auf dem Buchrücken stehen zwei Worte: Lech Walesa. Darin stehen Lobreden verschiedener Autoren.
Hauptsitz des Instituts ist Danzig, wo Walesa im beschaulichen Stadtteil Oliva mit seiner Familie eine Villa bewohnt. Acht Kinder hat er, zuletzt machte Sohn Jaroslaw von sich reden, als er mit Unterstützung des Vaters für das EU-Parlament kandidierte und deutlich scheiterte.

Walesa und die Polen, es scheint, als gebe es für diese alte Liebe keinen dritten Frühling mehr. Mehrere Male hatte in den neunziger Jahren Walesa das Ende seiner politischen Tätigkeit erklärt und - kandidierte dennoch wieder. Heute, kurz bevor in Polen Wahlen von Parlament und Präsident anstehen, sagt er: "In welcher Partei ist schon Platz für mich? Niemand lässt mich hinein. Denn ich kann nur der Erste sein. Ich habe Ideen, aber was soll ich machen, wenn dieses Volk mich mitten im Fluss verlässt?"


*** Ende ***


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