Mehr Haben als Sein
Danzig (n-ost) - Am Eingangstor zur Danziger Werft, vor dem im Sommer 1980 tausende Menschen dem siegreichen Verhandlungsführer der ersten unabhängigen Gewerkschaft „Solidarnosc“ ,Lech Walesa, ein „Danke!“ entgegen schrieen, herrscht heute beinahe Grabesstille. Eine Inschrift auf einer Steinsäule erinnert an den historischen Moment: „21 x TAK!“ - „21 x JA!“ - SOLIDARNOSC steht dort in Großbuchstaben geschrieben, als Reminiszenz an den 31. August 1980, an dem nach wochenlangen Streiks alle 21 Forderungen der Gewerkschaftsführer von der Regierung erfüllt wurden. 25 Jahre ist das nun her. Welche Bedeutung hat die Solidarnosc jedoch heute noch für die Männer hinter dem Tor?
Mariusz Dolecki war drei Jahre alt, als damals die Weichen für ein demokratisches Polen gestellt wurden. Jetzt steht er mit zwei Kollegen vor einem zehn Meter hohen, grauen Schiffsteil und baut ein Gerüst für Schweißarbeiten zusammen. Mühelos hebt er Eisenstange für Eisenstange in die Höhe und zeigt dabei seine im Kraftraum trainierten Oberarme. Natürlich ist er froh, diese Arbeit zu haben und trotzdem winkt er müde mit der Hand ab: „Die Werft ist am Ende, und da kann auch die Solidarnosc trotz ihrer Aktivitäten nichts dran ändern.“ Tatsächlich sind von einst 9000 Werftarbeitern heute nach zahllosen Umstrukturierungen nur knapp 2000 übrig geblieben, die zur letzten verbliebenen Schicht morgens um 6 Uhr antreten. Pro Jahr werden noch fünf bis sieben Schiffe mit einem Auftragsvolumen von jeweils 25 Millionen Dollar gebaut.
Die Solidarnosc, die nach ihrem Ausflug in die Politik, sich heute wieder auf ihre Rolle als Gewerkschaft konzentriert, hat es in den letzten Jahren nicht geschafft, Forderungen der Arbeiter nach höheren Löhnen durchzusetzen. Entsprechend groß ist die Enttäuschung und die Bereitschaft vor allem der jüngeren Arbeiter, als Einzelkämpfer weiter zu machen. Auch Mariusz Dolecki sieht, wie 40 Prozent seiner Kollegen, keinen Sinn in einer Mitgliedschaft: „Ich brauche einfach mehr Lohn, um meine steigende Miete zu zahlen, da hilft mir die Solidarnosc nicht weiter.“
Für den 57-jährigen Elektriker Kazimierz Trawicki ist die Solidarnosc fester Bestandteil seines Lebens. Seit 1964 ist er auf der damals noch nach Lenin benannten Werft beschäftigt. Bereits den Streik 1970, bei dem friedliche Männer und Frauen von Panzern zusammengeschossen wurden, um eine Ausweitung der Proteste im Keim zu ersticken, hat er miterlebt. Trotz dieser Erfahrung konnte er sich dem Sog der Ereignisse vom August 1980 nicht entziehen und ist erneut aktiv geworden.
In seinem Büro als Regionalvertreter der Solidarnosc hängen an den Wänden Fotos von Windjammern auf hoher See und als Zeichnungen vor weißem Hintergrund. Auf dem Fensterbrett spielt ein Radio polnischen Pop und durch das gekippte Fenster wehen metallische Schläge aus der gegenüber liegenden Werkshalle herüber. „Wir haben 1980 nicht nur für uns, sondern für ganz Polen gekämpft“, sagt Trawicki stolz, „und nach der Wende hat uns Polen vergessen.“ Trotzdem ist er überzeugt, das Richtige getan zu haben – und sei es für die nachfolgenden Generationen. Der Unmut über die desolate Lage der Werft ist jedoch groß und oft genug bekommt er ihn auch von seinen Gewerkschaftskollegen zu hören. Viele würden aus der heutigen Perspektive betrachtet nicht mehr an dem Streik von 1980 teilnehmen.
Kein Wunder, gehören die Arbeiter auf der Werft doch zu den klassischen Verlierern in der jungen polnischen Marktwirtschaft. Auch die Selbstbedienungsmentalität der Werftdirektoren Anfang der neunziger Jahre hat einiges an Frust aufgestaut. Diese hatten nach Ansicht der Arbeiter mit eigenen Firmen zu überhöhten Preisen Schiffsteile für die Werft anfertigen lassen und sich den Gewinn in die eigene Tasche gesteckt. Damit hätten sie die Danziger Werft endgültig in eine wirtschaftliche Sackgasse getrieben. Schließlich musste 1996 Insolvenz angemeldet werden und die benachbarte Gdingener Werftgruppe übernahm 1998 die Danziger als Tochterunternehmen.
Und so ist für viele Arbeiter die polnische Demokratie eng mit Vetternwirtschaft und wirtschaftlicher Ausbeutung verbunden, statt mit Wohlstand, Rechtsstaatlichkeit und Meinungsfreiheit. Diesen Frust kann Trawicki nachvollziehen, er selber verspürt ihn nicht – jedenfalls nicht in dem Maße. „Früher waren wir überall von Mauern umgeben, politischen wie auch ökonomischen. Mit Hilfe der Solidarnosc haben wir diese Mauern eingerissen und eine Perspektive geschaffen.“ Anscheinend haben diese Perspektiven bei einem Durchschnittslohn von 1600 Zloty (400 Euro) viele der Arbeiter aus den Augen verloren. „Heute dreht sich alles nur noch ums Geld“, sagt Trawicki ganz zum Schluss, „unser Motto von früher: „Mehr Sein als Haben“, ist leider in den Hintergrund getreten.“
Auslöser für den Streik auf der Danziger Lenin-Werft im August 1980 war die Entlassung der Kranführerin Anna Walentynowicz. Sie hatte es öffentlich gewagt, bessere Arbeitsbedingungen, wie ein warmes Essen für die Belegschaft oder beheizte Werkshallen zu fordern. Für die Werftleitung war das eine schwere Verletzung der Arbeitsdisziplin und ein Kündigungsgrund. Dagegen formierte sich schnell Widerstand. Mit dem berühmten Sprung über die Werksmauern setzte sich Lech Walesa an die Spitze einer Bewegung, die ganz Polen erfasste.
In einem harten 14-tägigen Kampf setzten die Streikführer 21 Forderungen gegen die polnische Regierung durch. Es begann der kontinuierliche Abstieg der kommunistischen Regierungen im gesamten Ostblock, denn noch nie war es früher gelungen, den Machthabern eine unabhängige Gewerkschaft abzuringen. Die Solidarnosc wurde zum Sammelbecken der innerstaatlichen Opposition und zählte schnell zehn Millionen Mitglieder bei nur 16 Millionen Beschäftigten in Polen. Damit verlor die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PZPR), in der davor 90 Prozent der Arbeiterschaft organisiert waren, die Legitimationsbasis für die führende Rolle beim Aufbau des Sozialismus. Der polnische Ministerpräsident General Wojciech Jaruzelski verhandelte zunächst, dann drängte er drängte er die Solidarnosc Ende 1981 durch die Ausrufung des Kriegsrechts in den Untergrund, ohne jedoch ihre Aktivitäten unterbinden zu können. Neun lange Jahre mussten die Aktivisten der Solidarnosc noch warten, bis sich ihre Anstrengungen am Runden Tisch in Warschau vom 6. Februar bis zum 5. April 1989 mit der Umwandlung des Systems vom realen Sozialismus zur pluralistischen Demokratie bezahlt machten. Lech Walesa wurde zum Präsidenten Polens gewählt, die Solidarnosc trat in die Regierung ein, spaltete sich bald in viele Gruppen auf und verlor letztlich jeden politischen Einfluss. Symptomatisch dafür war die Abwahl Lech Walesas 1995.
Auch Roman Sebastianski, Marketingdirektor der Investitionsgesellschaft Synergia 99, ist mit dem Niedergang der Werft und der Gewerkschaftsbewegung verbunden. Seit 1996 versucht Sebastianski seine Vision einer Hafencity mit dem Titel „Junge Stadt“ auf einem 73 Hektar großen ehemaligen Gelände der Werft zu verwirklichen. Seit November 2004 besteht nun endlich ein gültiger Bebauungsplan für das ehrgeizige architektonische Projekt, das mit der Aussicht auf Wohnen am Wasser London, Rotterdam und Hamburg Konkurrenz machen soll. Sebastianski steht im Präsentationsraum des ehemaligen Direktionsgebäudes der Werftleitung vor einem 3 mal 2 Meter großen Tisch, auf dem die Vision mit Papp- und Holzhäusern eine körperliche Form gefunden hat. Begeistert zeigt er auf Wohnhäuser, Museen und Dienstleistungszentren, die schon ab 2006 gebaut werden sollen. In der „Jungen Stadt“ sollen in den nächsten 15 bis 20 Jahren bis zu 10.000 neue Arbeitsplätze und Wohnungen für 6000 Menschen entstehen.
Nur einer der vielen weißen Papp-Klötze ist der Vergangenheit gewidmet. Am Eingang zur zukünftigen Hafencity steht das Solidarnosc-Museums. An seiner Frontseite lächelt Lech Walesa siegessicher von einem Foto auf die davor liegende Allee der Freiheit. Wenn es nach Sebastianski geht, soll mit diesem Lächeln das Geld der Investoren angelockt werden. „Der Mythos der Solidarnosc schwebt hier durch die Straßen“, sagt er mit Nachdruck, „für Investoren ist dies die einzigartige Möglichkeit an einem geschichtsträchtigen Ort ihr Unternehmen aufzubauen.“ Ob ein Mythos als Standortvorteil ausreicht?
Das Bauprojekt auf dem Werftgelände ist immer noch heiß umstritten. Für viele läutet es den endgültigen Tod der Werft ein, mit dem sie sich nicht abfinden wollen. Wird mit der Werft nach 25 Jahren auch die Solidarnosc unter ihrem eigenen Mythos begraben? Bei den Jubiläumsfestwochen, die vom 14. bis 31. August in Danzig stattfinden, wird dies heiß diskutiert werden. In Theateraufführungen, Ausstellungen und Konferenzen haben die Besucher die Möglichkeit, sich über ihre Sicht der Dinge auszutauschen. Und vielleicht treffen sie dann sogar den Mann, der zum Symbol zum Aufstieg der Solidarnosc wurde und mit ihr in Polen in Vergessenheit zu geraten droht: Lech Walesa.
Ende